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Durchgeschlafen wie ein Eichhörnchen nach dem Winderschlaf wachte ich langsam auf, zwar mit schmerzenden Gliedern, aber happy und voller Energie. Ich hopste ein wenig durch das Zimmer und packte meinen Kram zusammen, warf einen prüfenden Blick auf den wolkenverhangenen Himmel und rotierte in Richtung Aufenthaltsraum, von wo aus es schon bis ins Treppenhaus verheißungsvoll nach Kaffee und Brötchen schnupperte. Nach einem ausgiebigen Frühstück plauschte ich kurz mit der netten Rezeptionsexpertin, schnappte meinen Rucksack und machte mich dann auf dem Weg.
Erstaunlich – heute war ich gar nicht der Letzte! Auf dem Sofa im Aufenthaltsraum lagen fünf oder sechs Rucksäcke, deren Träger noch in aller Ruhe mampften. Ich hingegen aber war schon am Start, denn wie heißt es schön: Der frühe Wurm hat einen Vogel! Oder so ähnlich. Egal, Morgengold hat Stund im Mund.
Barcelos war an diesem Morgen in leichten Nebel gehüllt, die Straßen noch nass vom nächtlichen Regen und die Luft wunderbar frisch. Für Pilger also bestes pilgermäßiges Pilgerwetter! Wieder überquerte ich die schmale Brücke über dem Cávado, vorbei an der Burg und durch die fast leeren Gassen der Altstadt.
Einige Ladenbesitzer putzten eifrig ihre Schaufenster, zuppelten Ausstellungsware zurecht und gossen den einen oder anderen Eimer Schmutzwasser in den Gulli. Alles sehr friedlich und ruhig. Doch nun folgte ein ausgesprochen wichtiges Ereignis: Nicht weit vom Stadtpark entfernt, am Rande eines wunderschönen großen Platzes, entdeckte ich einen Ramschladen. Erstmal nichts ungewöhnliches, sollte man meinen Dort gab es größtenteils sinnloses Zeug: Aufblasbare Spielzeugschwerter, Plastikblumen, 1 € - Parfüme und ... doch nicht etwa Trolleys?? Oh doch, jawohl. Der entscheidende Zeitpunkt war nun gekommen, es schlug die Stunde des Trolleybastlers! Man kann sich meine jäh aufkommende Euphorie kaum ausmalen: Sollte das der Startschuss für den PEREGRINO 3000 sein? Oh, welch kaum zu fassendes Glück! In zwei Reihen standen da tatsächlich verschiedene große und kleine, schmale und breite, sowie graue und bunte Trolleys und lachten mich an. Jetzt gab es kein Zurück mehr! Ich suchte mir ein breites Modell mit ziemlich dick aussehenden Rädern aus, entrichtete einige Euronen an die Vertreterin des hiesigen Trolleymonopols und rollte damit in Richtung einer Parkbank. Das sah zugegebenermaßen etwas komisch aus, aber Moment! Nun erst entfaltete ich meine Pläne: Das auf dem Rollgestell steckende Körbchen hob ich heraus, es sollte kurze Zeit später im Ramschladen zurück gelassen werden. Vielleicht würde es jemand ja noch gebrauchen können. Meinen angerissenen Rucksack setzte ich auf das Gestell und begann ihn nun von allen Seiten mit meinen Gurten festzumachen. Diese hatte ich zum Glück am Morgen des vorherigen Tages nach dem Debakel mit dem PEREGRINO 2000 nicht weggeworfen, sondern vorsorglich eingerollt und wieder in meinen Rucksack gestopft. Nun war innerhalb von Minuten das Meisterwerk vollendet! Unter den anerkennenden Blicken und dem tosendem Beifall tausender Schaulustiger (vielleicht waren es auch nur drei) präsentierte ich meinen neustes Pilger-Hilfsmittel:
Jawohl, um den PEREGRINO 3000 einfacher ziehen zu können, hatte ich meinen Wanderstab zwischen die schmalen Aluminiumstäbe geschoben und mit einigen Kabelbindern fixiert. Die hatte ich zum Glück hatte ich in Leipzig noch vor Beginn der Reise der Notfallausrüstung hinzugefügt! So setzte ich mich in Bewegung, erst noch langsam, dann jedoch mit Pilgerturbo. Mein Rücken und meine Füße jubelten begeistert, während ich leichtfüßig die Straßen entlang huschte und mein Gepäck stets sicher und fast lautlos hinter mir her zog. Hach, was war das schön! Wie erwartet erntete ich zwar einige Lacher und fragende Blicke, aber das war nicht wichtig. Denn nun konnte ich größere Distanzen erreichen und dabei weniger Ruhepausen einlegen, sogar mehr Proviant auf einmal transportieren. Nur bei Bordsteinen, Schlaglöchern und Geröll musste man etwas vorsichtig sein, damit das Teil nicht umkippte. Irgendwann band ich meinen langen Schal an den Wanderstab und das andere Ende an mein rechtes Handgelenk, sodass ich nicht dauerhaft festhalten musste. Das wurde erst etwas lästig, als ich mich am Kinn kratzen wollte, reflexartig die Hand hochzog und dabei die Spitze des Wanderstabs in den Oberschenkel rammte. Doch abgesehen davon gab es keinen Grund für Kritik!
Im nächsten Café kaufte ich gleich ein paar große Wasserflaschen, um während des heutigen Tages nicht in jedem kleinen Laden anhalten zu müssen, versorgte mich mit ein paar Bananen (kein Tag ohne Bananen!) und ließ bald nach Stadtzentrum hinter mir.
In einer Seitenstraße schnappte ich kurz nach Luft, als ich auf einem Schild Hammer & Sichel auf rotem Grund erblickte: Das pompöse Gebäude der Kommunistischen Partei Portugals! Aha. Ich machte schnell ein paar Schnappschüsse von dem einladenden Prunkbau und ging weiter. Jetzt nur nicht unangenehm auffallen!
Einige Vororte wurden durchquert, breit grinsend und mit einer Dose Blubberbrause in der linken Hand, bis ich mich nach einem Sprung über ein paar Bahngleisen in einem tiefen Wald befand. Der Weg wirkte wie tief in den Waldboden eingebuddelt; die hoch aufragenden, bröckeligen und von dicken Wurzeln durchzogenen Wände zu beiden Seiten machten einen etwas düsteren Eindruck. Mehrere Erdschichten waren deutlich zu erkennen – hier erfüllten sich die dunkelsten Träume jedes wandernden Geologen! Hier und da lagen Brocken herum und brachten meinen heldenhaften PEREGRINO 3000 mehrmals bedrohlich aus dem Gleichgewicht. Als er dann doch einmal umfiel und mein Wanderstock aus der improvisierten Verankerung rutschte, wurde eine kurze Reparatur nötig. Alles in allem jedoch lief es wie am Schnürchen.
Der Weg führte aus dem Wald heraus zu einer Art breitem Plateau, auf dem sich eine beachtliche Menge pubertäres Grünzeug aneinander reihte. Was sollte das mal werden, Mais vielleicht? Zwischen dem heranwachsenden Gestrüpp stand eine alte Dame gebückt und prügelte hier und da mit ihrer Hacke auf den Boden ein. Sie erhob sich und sah dabei zu, wie ich gemütlich an ihr vorbei rollerte. Ich erhob die Hand zum erhabenen Gruße, doch sie schüttelte nur den Kopf und machte sich wieder an die Arbeit. Das trübte meine Laune jedoch nicht im Geringsten!
Weiter ging es über Wiesen und Felder, durch Wäldchen und verschlafene Dörfer. Der Nebel verzog sich allmählich und die Wolken machten der Sonne Platz. Ich fragte mich, warum zum Geier es eigentlich so wahnsinnig warm war, als mir bewusst wurde, dass ich ja die ganze Zeit noch meinen Pulli und die lange Hose anhatte. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Man! Rechtzeitig vor dem Hitzetod zog ich also wieder meine kurzen Sommersachen an.
In einem Café bestellte ich zwei Bleikuchen und wunderte mich, dass abgesehen von der Bedienung und mir keiner dort war und ich auch sonst heute erstaunlich wenig Menschen zu Gesicht bekommen hatte. Wo seid ihr denn nur alle? Auf dem Weg zum nächsten Dorf änderte sich das zum Glück, als ich ein nettes Ehepaar kennenlernte: Sie wohnten schon seit 12 Jahren in Deutschland und kamen ursprünglich aus Tschechien. Wir sprachen eine Weile miteinander über Gott und die Welt und betraten kurz darauf ein kleines Örtchen, das ziemlich einsam und malerisch auf einem Hügel lag. Herrlich!
Ein Schild am Ortseingang verkündete Rettung vor Hunger & Durst: Gemessen an der überschaubaren Größe des Dorfes gab es ein geradezu bombastisches Restaurant in der Nähe des Dorfzentrums, welches natürlich sofort von uns aufgesucht wurde. Ein paar alteingesessene Experten saßen an der Bar und betrachteten die Neuankömmlinge prüfend, nickten uns freundlich zu und zeigten zum Innenhof. Dort saß bereits ein munter schnatterndes Grüppchen Pilger. Wir ergatterten einen Tisch unter einem großen Sonnenschirm und bestellten ein paar kühle Bier - perfekt! Nach dem obligatorischen Pilgermenü, welches unseren Hunger erst so richtig in Gang brachte, bestellten wir uns eine Runde Fisch mit gebratenen Kartoffeln und schlemmten! Die Berge von Fisch, Kartoffeln und Sahnesoße hatten bald jedoch auch einen weiteren gierigen Interessenten angelockt: Eine weiß/grau gescheckte Katze kam angeschlichen, schaute aufmerksam von einem Tisch zum anderen und steuerte zielstrebig auf unseren zu. Sie setzte sich neben uns, blickte abwechselnd jeden eindringlich an und sprang meinem Gegenüber schließlich spontan auf den Schoß. Sowas freches! Das schien ihn jedoch nicht zu stören, denn geduldig und mit einem leichten Grinsen gab er ihr ein Stückchen Fisch ab.
Das jäh einsetzende Schnurren der Katze war vermutlich noch im nächsten Dorf zu hören, doch plötzlich musste ihr neuer Freund trompetenmäßig niesen, worauf sie schnell wie ein Blitz wegsprang und ihm einen entrüsteten Blick zuwarf. Doch es dauerte nicht lange, da kam sie zurück getrottet, diesmal zu mir, setzte sich ganz dicht neben mein Bein und schaute mit einem herzzerreißenden Blick zu mir herauf. Pah! Sie tat so, als ob ihr Hungertod kurz bevorstand, dabei war sah eigentlich ziemlich gut genährt aus! Natürlich zieht die Masche bei den Meisten, aber nicht bei mir. Ich bin mit Katzen groß geworden, also falle ich darauf doch nicht rein. Kommt gar nicht in Frage! In aller Seelenruhe knabberte ich an einer Kartoffel, tunkte genüsslich ein Stückchen Fisch in die Soße und wollte schon an die Nachspeise denken, als mir ganz sanft eine Pfote auf das Knie gelegt wurde, gefolgt von einem leisen Fiiiiep. Nein, ich halte stand. Vermutlich macht sie das jeden Tag 50 Mal! Wenn sie davon nur zehnmal Glück hat und jeweils zwei Stückchen Fisch bekommt, ergibt das...warte mal, wieviel ist das... Es jaulte weiter jammervoll von unten und ich spürte meine Widerstandskraft bröckeln... Ach egal, dann nimm schon, hier! Ich legte ihr ein Stücken Fisch auf eine Untertasse und gab mich geschlagen. Mist! Diesem Bettelblick halte ich eben doch nicht ewig stand.
Der Nachmittag zog sich noch ein wenig hin, diverser Knabberkram und ein paar Kaffee wurden verdrückt. Doch als die Sonne gefühlt nicht mehr so stark vom Himmel brannte, machten wir uns wieder auf den Weg und ließen dieses gemütliche Dorf hinter uns. Die vollgefutterte Katze hatte ich da bereits vor das Restaurant geschleppt und schaute uns friedlich mit bräsigem Blick nach. Machs gut, kleiner Moppel!
Eine ganze Weile ging es steil bergab und dann auf eine Landstraße, der wir erst für ein paar hundert Meter folgen und diese anschließend zu überqueren hatten, in Richtung eines Tals. Dieser Teil war leider nicht so schön, da die Autos und LKWs brenzlig dicht an uns vorbei fuhren und es nicht möglich war, hinter den Leitplanken zu laufen. Vor einer engen Kurve spurteten wir auf die andere Seite, etwas panisch, da man den Verkehr auf der Gegenseite nicht einsehen konnte. So schnell ich konnte, rollte ich mit meinen PEGERGINO 3000 in Richtung des Weges, der von einem schmalen gelben Pfeil auf dem Asphalt markiert wurde. Puh, das wäre geschafft! Im Zickzack ging es weiter bergab und ich ließ mich ein wenig zurückfallen. Irgendwie hatte ich wohl etwas zu viel gegessen, denn ich war wahnsinnig träge und mein Magen rumorte. Ich machte eine kurze Pause, trank etwas Wasser und schaute dabei zu, wie ein alter Bauer seinen noch älteren Traktor wieder zum Leben erwecken wollte. Das träge Gezuppel des historischen Motors und das Rauschen der Bäume im Wind bildeten einen klasse Soundtrack. Frisch gestärkt und nach einer Prise meines Lieblingsschnupf ging es an einigen kleinen Obstgärten vorbei, bis zu einer großen (leider verschlossenen) Kirche. Dahinter erstreckte sich ein wunderschönes tiefgrünes Tal, im dem in jedem denkbaren Winkel Weinreben aus dem Boden wuchsen. Das sah total irre aus, fast unwirklich schön, wie in einem kitschig gestaltetem Videospiel. Der Weg fiel steil ab und lud zu einem gepflegten Sturz ein, also schaltete ich lieber einen Gang runter und schoss ein paar Erinnerungsbilder, wie dieses hier:
Man, sieht echt aus wie in einem noblen Weinanbaugebiet in Südfrankreich. Ich war zwar noch nie in Südfrankreich, aber so stelle ich es mir zumindest vor! Die nächste Überraschung erwartete mich hinter einer engen Kurve, als ein großer schwarzer Hund auf mich zugerannt kam, aufgedreht wie ein Lachsack bellend um mich und meinen PEREGRINO 3000 hopste und hochinteressiert an meinem Rucksack schnupperte. Auch nach ein paar zaghaften Schritten machte er keine Anstalten, zurück zu laufen. Hatte er (oder sie) überhaupt ein Herrchen (oder Frauchen)? Niemand war zu sehen. Naja, sei es drum. Ich verabschiedete mich höflich und erhielt jedoch keine vernünftige Reaktion, auf der man ein Gespräch aufbauen konnte. So setzte ich also meinen Weg unbeirrt fort, wobei ich mich staunend und mit großen Augen den wirklich atemberaubenden Ausblick genoss. Sicherheitshalber cremte ich mich jedoch mit einer weiteren Schicht Sonnencreme ein, denn es brannte mir konstant von schräg-hinten auf die Figur. Noch mehr Sonnenbrand wollte ich nicht riskieren. Doch ganz ehrlich: Ich fühlte mich in diesem Moment wohl, sauwohl. Es war angenehm warm, jedoch nicht mehr ganz so drückend schwül-heiß und dazu fast windstill; ich hörte einen Song von John Hiatt und war quasi rundum zufrieden. Ich schob meinen Sonnenhut nach hinten und freute mich schon darauf, in ein paar Stunden die nächste Herberge in Balugaes zu erreichen.
Also lief ich summend immer den Pfeilen nach, nur aus meinen Gedanken gerissen von einer Gruppe Fahrradpilger, die an mir vorbei brausten. Einer von denen hatte sinnigerweise eine aufgedrehte Musikbox mit ordentlich Bass im Rucksack, die weichgespülten Radiopop von sich gab und damit Menschen & Tiere in der Umgebung in Bestürzung versetzte. Hinter einem uralten Steinweg…
…vernahm ich wieder laute Musik und dachte zunächst, der olle Fahrradfahrer hätte eine Pause eingelegt. Dann jedoch erblickte ich am Fuße einer kleinen Brücke einen alten Renault Mégane, der wohl dem Bauarbeiter gehörte, der an einem der schmalen Pfeiler Ausbesserungsarbeiten durchführte. Der Kofferaum war geöffnet und aus dem Inneren kreischte etwas heraus, was wohl 90’er Jahre Rock sein sollte. Mein erstes Auto war auch ein solches Modell und ich freue mich immer, wenn ich einen sehe. Denn auch wenn ständig etwas abfiel und durchrostete, mochte ich ihn sehr und fand ihn ziemlich komfortabel. Außerdem habe ich durch ihn viel über Technik gelernt, da ständig Bauteile den Geist aufgaben, von deren Existenz ich bis zu dem Zeitpunkt gar nicht wusste. Ich hatte mir mal die Mühe gemacht und alle ausgetauschten Teile dokumentiert, verlor dann jedoch aufgrund ihrer Vielzahl den Überblick und hörte bei der zweiten Seite auf. Aber genug davon – wieder zurück auf den Jakobsweg! Also ließ ich den Mégane hinter mir und verfiel nach einer halben Stunden wieder in eine gewisse Trance.
Ich schaltete meinen mp3-Player aus, packte ihn mit meinen Kopfhörern zurück in den Rucksack und lauschte in aller Ruhe den zirpenden Grillen und dem Geräusch des Windes in den Bäumen. Die Zeit schien hier stehen geblieben zu sein, wobei ein Detail hierbei besonders hervorzuheben ist, wie ich meinem Pilgerführer entnehmen konnte: Wenn man genau hinsah, konnte man auf manchen der grob gehauenen Steinplatten die Rinnen der Fuhrwerke erkennen, die dort über die Jahrhunderte ihre Spuren hinterlassen hatten, bevor moderne Straßen gebaut wurden. Wieviele Menschen sich hier wohl schon entlang geschleppt sind, zur Feldarbeit, zu ihrem Bauernhof, in das nächste Dorf zum Markt oder in Richtung Santiago, so wie ich an diesem Tag. Und jeder hat irgendwie seine Spuren hinterlassen, ganz auf seine Art. Irgendwie eine schöne Vorstellung, nicht? Wenn man auch nur kurz auf der Welt ist, kann man doch zumindest dazu beitragen, eine Rille im Stein zu hinterlassen, oder etwas ähnliches. Dann kann auch nach hundert Jahren immer noch jemand kommen und sagen: „Hey guck mal, die Rille da...das war bestimmt Holger, damals...“ Aber jetzt verliere ich schon wieder den philosophischen Faden.
Der Weg eierte ein paar Mal durch die Felder und führte anschließend über einen von Geröll bedeckten Hügel, der mit einiger Anstrengung erklommen werden musste. Als das geschafft war, japsend und unter so manchem leise gemurmelten Fluch, sah ich vor mir bereits die ersten Häuser auftauchen: Das müsste eigentlich Balugaes sein. Ich griffelte nach meiner Karte und siehe da – Ziel erreicht! Wie zur Begrüßung schlurfte eine schwarze Katze aus einem Vorgarten schräg links vor mir, sah kurz träge in meine Richtung und stakste unbeeindruckt in ein Gebüsch auf der gegenüberliegenden Seite des Weges. Ich richtete mich in Gedanken darauf ein, erst für eine Weile nach einer Herberge suchen zu müssen, doch ein Schildchen wies mir unmissverständlich den richtigen Weg: Feierabend voraus. In der hohen Mauer zu meiner Rechten tauchte eine blau gestrichene Flügeltür auf, hinter der sich das ausgedehnte Gelände der Unterkunft befand.
Ich stolperte durch die Tür und besah mir das ultra-gepflegte Haupthaus direkt vor meiner Nase, aus dem fröhliche Stimmen und das Geräusch klappernden Geschirrs herüber drangen. Sah alles ziemlich nobel und teuer aus. Aber wo war nur die Anmeldung? Da hörte ich ein deutliches Räuspern, eine schmale Seitentür öffnete sich und eine Frau trat auf den Vorplatz. Sie war nur ein wenig älter als ich, zog ihre Augenbrauen weit nach oben und schaute mich fragend an.
Bevor ich etwas mehr oder weniger kluges sagen konnte, sagte sie schnell:
„Nein nein, ist alles voll. Ausgebucht.“ Dazu machte sie ein paar hektische Handbewegungen in meine Richtung. Ich hörte zwar was sie sagte, jedoch brauchte ich einen Moment, um mir der unentspannten Konsequenzen klar zu werden: Wie – kein gemütliches Bett, keine kalte Dusche und ... aber ... ich hab‘ doch noch gar nichts gesagt! Während ich sie fragend anblinzelte, zog sie ihre Augenbrauen noch weiter nach oben, bis diese ganz unter ihren wuscheligen braunen Haaren verschwunden waren.
„Es gibt hier irgendwo noch eine zweite Herberge, aber die ist glaube ich auch voll. Naja.“
Ihre Uncoolheit verärgerte mich. Ob ich wenigstens im Garten übernachten könnte, der ruhig und geschützt neben dem Haupthaus lag, oder zumindest meine Hängematte irgendwo aufspannen, fragte ich sie.
„Nein nein, so etwas machen wir hier nicht.“ Sie schaute mich noch immer doof an, diesmal mit einem etwas spöttischen Grinsen. Irgendwie schien ihr die Situation sehr zu gefallen. Meine Füße schmerzten, ich war total müde und durstig, doch langsam wurde ich richtig sauer. Da ich diesem ansonsten friedlichen Ort keinen sächsischen Gefühlsausbruch zumuten wollte, entschied ich mich dennoch für einen baldigen taktischen Rückzug.
Klar war ich geknickt, aber ok – man kann auch mal Pech haben und die Unterkunft ist eben ausgebucht – soweit ja noch kein Grund für erhöhten Blutdruck. Doch die hochnäsige Art dieser doofen Quarktasche brachte mich echt auf die Palme! Ich setzte zu einem dezent entwicklungsorientiertem Feedback an, woraufhin sie nur meinte, ich solle eben mit ihrem Chef sprechen. Jaja klar, sagte ich nur, als ob ich wohl nichts Besseres zu tun hätte. Sie drehte sich um und ging bestens gelaunt zurück in ihre Drachenhöhle.
Ich hingegen verkrümelte mich dampfend wieder auf die Straße und fragte mich: Was soll das hier sein – eine „High-society-Pilgerunterkunft“ mit Frühstücksservice & Silberbesteck? Steckt‘s euch doch in...na egal. Erstmal easy bleiben. Gleißend hell empfing mich die Nachmittagssonne, als wollte sie sagen: Ach komm, lass die Alte doch labern – schau mal wie schön es hier ist! Das stimmte ja auch. Ok, überredet.
Nach ein paar Schritten kam ich dann an ihrer der Quelle vorbei, rührte sie aber nicht an. Pah! Soll der Hausdrache doch davon schlürfen. Ich hatte zwar höllischen Durst, machte mich aber lieber auf die Suche nach einem Café oder Restaurant. Nachdem ich kurz darauf in einem Kiosk schnell eine Flasche herunterstürzte, die zweite Herberge suchte und mich dabei tierisch verlief, fand ich direkt an einer stark befahrenen Kreuzung endlich eine kleine Bar.
Total erschöpft betrat ich den Schankraum und brauchte zunächst einige Sekunden, um die verblüffend hohe Dichte an amüsanten Details in diesem kleinen Raum wahrzunehmen: Links befand sich ein breiter Tresen, aus dem vorsichtig ein mickriger Zapfhahn hervorlugte, dahinter stand ein Typ, der wie ein Schlagersänger aus den achtziger Jahren aussah. Riesige Föhnfrisur mit tiefschwarz gefärbten Haaren, Goldkettchen um den Hals, sowie eine kleine Rose im oberen Knopfloch seines viel zu weit aufgeknöpften schwarzen Hemdes – so wie auf seinem schmalzigen Plattencover. Moment mal – seinem Cover? Jawohl, denn zwischen Tür und Tresen befand sich ein großes Poster, auf dem er in verstörend kitschige Pose abgebildet war. Davor standen, feinsäuberlich gestapelt, ein paar dutzend Demo-CDs, auf denen er offenbar selbstgeschriebene Pop-Schlager zum Besten gab - Machwerke eines echten Originals! Irgendwie erinnerte er mich an Gilderoy Lockhart aus den Harry Potter Büchern.
Er und seine Gäste schauten mich fragend an, wie ich da im Türrahmen stand und mit offenem Mund ratlos von Tony (so hieß er, glaube ich), zu seinem Poster und wieder zu ihm sah. Ich wollte nicht unhöflich wirken, also rollte ich zum Tresen und gab den Grund für meinen Besuch preis: Meinem akuten Bedarf an Bier und Backware! Tony, der sanfte Barde, griff daraufhin nach einem fleckigen Bierglas und betätigte den Bierbetätiger, woraufhin sich in Zeitlupe ein trauriges Rinnsal goldenen Nasses ergoss. Gemessen an der Dauer der ganzen Prozedur gab es vermutlich keine Verbindung von einem unter Druck stehenden Fass zum Zapfhahn, sondern Dobby der Hauself pustete unter dem Tresen mit aller Kraft in einen dünnen mit Bier gefüllten Schlauch. Wie auch immer: Kurze Zeit später saß ich an einem Tischchen in der Nähe der geöffneten Tür, nippte an meinem halb gefüllten Biergläschen, futterte Kekse und schaffte es nach ein paar Anläufen, mich mit meinem gurkigen Telefon ins WLAN einzuwählen. Als ich gerade nach verfügbaren Unterkünften in der Nähe schaute, setzte sich ein Junge von etwa acht Jahren auf einen Stuhl am Nebentisch und schaute mich unverhohlen aus seinen tiefen schwarzen Augen neugierig an. Sicher seine ehrfürchtige Ergriffenheit dem Erfinder des PEREGRINO 3000 gegenüber. Ja, das müsste es sicher sein!
Mit dem Ziel der sofortigen Steigerung des Allgemeinbefindens orderte ich nun einen Bleikuchen, der mir verlockend unter einer von innen ziemlich beschlagenen gläsernen Kuchenglocke entgegen lachte. Sacht und mit Bedacht servierte mir Tony seine kulinarische Köstlichkeit auf einem kleinen Tellerchen. Ich wollte schon knabbernd ansetzen, doch entdeckte kurz vor dem Reinbeißen einen grünen Schimmelfleck an der Seite und ließ prompt ab von meinem Tun. Hah! Plötzlicher Tod durch akute Bleikuchenvergiftung wurde erfolgreich verhindert. Na ok, dann eben kein Kuchen, vielleicht hatte ich ja noch eine Banane in meinem Rucksack. Natürlich richtete ich meine Beschwerde unverzüglich an den Küchenchef weiter, also Tony; seine Seichtheit erschien mäßig überrascht und gab mir etwas gereizt die paar Cent für das schimmelige Etwas zurück, setzte sich beleidigt zurück unter sein Hochglanzporträt und schaute melancholisch aus dem Fenster. Wie auf Kommando fing er leise an zu säuseln.
Das war zwar alles sehr kinoreif, dennoch wollte ich langsam wieder los, denn ich hatte schon zu viel Zeit verbaddelt. Doch wohin? Die amüsante Episode in Tonys Tempel änderte auch nichts an der Tatsache, dass es in der näheren Umgebung keine verfügbaren Hostels, Hotels oder freie Betten gab. Nichts. Das nichtseste Nichts, das man sich vorstellen kann! Tja und nun? Bis hierhin war ich immerhin schon 17 Kilometer gelaufen und war ziemlich runtergefahren.
Die einzige gerade noch bezahlbare Unterkunft befand sich in einem winzigen Dörfchen in einer Entfernung, die ich mir an diesem Tag jedoch nicht mehr zutraute. Was nun? Ich könnte nur 1. zur besagten Unterkunft laufen (mein Tod), 2. mit dem Bus hinfahren (eigentlich wollte ich doch nicht „abkürzen“!), 3. in das weiter entfernte, aber auch deutlich größere Ponte de Lima fahren (ich sagte ja, Abkürzen ist uncool) oder 4. im Wald übernachten (oh, muss das wirklich sein?). Nach kurzer Überlegung schloss ich Punkt 4. bereits aus, da ich glaubte irgendwo aufgeschnappt zu haben, dass es in dieser Nacht regnen soll. In Gedanken sah ich mich schon halb durchnässt unter einem Baum kauern, mit meiner Plane über dem Kopf laut in die Dunkelheit fluchend. Wohlmöglich müsste ich in der Wildnis noch mit einem Braunbär um sein Revier kämpfen. Kommt gar nicht in Frage!
Ich fragte Tony, ob es hier überhaupt Transportmöglichkeiten gab und er bestätigte mir, dass auf der Landstraße in Richtung Ponte de Lima hier und da Busse halten würden. Hey, das wäre also meine Überlebenschance, wenn ich nicht mehr weiter laufen könnte! Komisch, ich hatte heute noch gar keinen Bus fahren sehen. War heute nicht auch ein Sonntag? Obwohl: Ich wusste schon seit einer Weile nicht mehr so genau, welcher Tag es jeweils war. Nun gut: Das Ziel für heute war nun klar – volle Kraft voraus nach Ponte de Lima! Um auf Nummer sicher zu gehen, buchte ich ein Bett in einem Pilgerhostel in der Nähe der Altstadt und fühlte mich dabei schon deutlich besser. Der Junge, vermutlich Tonys Sohn, der nach wie vor auf einem Stuhl vor mir saß und mich ununterbrochen anstarrte, nervte mich langsam ein wenig. Also nichts wie los. Mach‘s gut, Sanftling!
Um ehrlich zu sein, hatte der Plan auch die ein oder andere Schwachstelle, denn es waren noch über 12 Kilometer bis Ponte de Lima und ich war mir wirklich nicht sicher, ob ich es bis Einbruch der Dunkelheit schaffen würde. Aber wie schon gesagt, im Notfall könnte ich ja wirklich abkürzen und den Bus nehmen. Der kürzeste Weg laut Karte war die Landstraße, die ich von der Kreuzung aus schon gesehen hatte. Da konnte ich mich wenigstens nicht verlaufen!
Laufen, laufen und laufen. Am Anfang war ich noch recht optimistisch, doch dieses Gefühl blieb leider nicht lange. Endlos erstreckte sich die Straße vor mir, gefühlt kam ich kaum voran. Ein paar Autos brausten an mir vorbei, waren schon bald aus meinem Sichtfeld verschwunden und verstärkten in mir das Gefühl, konstant zurück zu bleiben und mega langsam zu sein. Der eigentliche Jakobsweg war ein Pfad rechts der Straße, den ich undeutlich zwischen Bäumen und Stäuchen erkennen konnte. Wenn ich einen Zahn zulege, wäre ich vielleicht irgendwann am späten Abend in Ponte de Lima. Oder nachts? Wirklich eine total bekloppte Aktion! Aber irgendwie war ich noch nicht an dem Punkt, bzw. zu stolz, einfach ein Taxi bzw. Bus zu suchen und abzukürzen. Als ich genau darüber gerade nachdachte, tauchte rechts von mir eine Bushaltestelle auf! Ich überlegte kurz, blickte entlang der Straße zurück zu Tonys Bar, die ein kleiner Punkt irgendwo hinter mir war, dann wieder nach geradeaus zum endlose Grün der Wälder links und rechts der Straße und entschied, weiter zu laufen. Wo sollte ich auch hin? Weit und breit war auch nichts zu sehen, was nur die geringste Ähnlichkeit mit einem Bus hatte. Die Straße verlief gefühlt weg bis zum Horizont, wie bei einem amerikanischen Roadmovie. Nur das ich eben nicht auf einer Harley Davidson oder in einem Dodge Ram saß, sondern zu Fuß unterwegs war und einen selbstgebastelten Gepäcktrolley hinter mir herzog. So ging das für ein– oder zwei Stunden, unterbrochen nur von kurzen Pausen zum Trinken oder Fotografieren.
Abseits der Straße tauchte nach und nach diverses munter knabberndes Getier auf:
Bald bekam ich das Gefühl, dass die Häuser und Straßenschilder weit vor mir gar nicht näher kamen, im Gegenteil: Je weiter ich lief, desto größer und unüberwindbarer kam mir die Distanz vor. Dabei lief ich schon deutlich schneller als sonst und fühlte bald auch eine gewisse Verzweiflung in mir aufsteigen. An dieser Stelle sollte ich vielleicht noch einmal erwähnen, dass solch starke Gefühlsausschläge für mich auch nicht gerade normal sind. Heute, also mit etwas Abstand, könnte ich auch einfach sagen: Warum regst du dich so auf?! Klingel eben irgendwo, lass dir ein Taxi rufen und fahr ganz easy zum nächsten Hotel. Auf dem Jakobsweg ist man aber bei weitem nicht immer easy drauf: Eine fremde Umgebung, so viele neue Leute, jede Nacht in einem anderen Ort und einer anderen Unterkunft, eine mir fremde Landessprache, sowie für gewisse Zeit die deutlich spürbare körperliche und mentale Anspannung. Zumindest habe ich es so empfunden, war in manchen Momenten also echt unsicher und nicht gerade tiefenentspannt. Letzteres kam erst deutlich später, sodass einen die kurzzeitig erfolglose Suche nach einer Transportmöglichkeit mehr aus der Ruhe bringen kann, als das unter normalen Umständen der Fall wäre.
Irgendwann tauchte rechts von mir nun die zweite Haltestelle auf. Was nun? Bis in die Nacht durchlaufen? Nehmen die Hostels & Herbergen einen dann überhaupt noch auf? Ach verdammt! Ich setzte mich also grummelnd hinein und warte auf den Bus. Die Zeit verging und verging. Eine gefühlte Ewigkeit zählte ich die auf dem Boden verteilten Glassplitter, die mal eine Scheibe bildeten, bevor mir endlich die erschütternde Erkenntnis ins Großhirn waberte: Alter, es ist Sonntag! Fährt da überhaupt ein Bus? Gemessen an den fragenden Blicken der wenigen Verkehrsteilnehmer, die vorbei brausten und mich dort sitzen sahen, wahrscheinlich nicht. Welch sinnloser Mist! Ich wollte gerade wieder von dannen schlurfen, als ich ein kleinen Aufkleber an der noch nicht zerschlagenen Scheibe erblickte. Nanu, was steht denn da? Ich ging näher und las das Wort Taxi, darunter zwei fett gedruckte Telefonnummern. Hey super! An diesem Punkt war es mir mittlerweile egal, auf welche Weise ich in die Stadt kam – notfalls auch auf dem Rücken eines Maultiers. Ich kramte mein Handy hervor und wählte die erste Nummer. Es dauerte eine Weile, doch dann tutete es nur hektisch hintereinander: Keine Verbindung unter diesem Anschluss! Ist doch kein Problem, die zweite Nummer wird bestimmt gehen. Sie muss! Was soll ich sagen, nach kurzem Warten flötete es disharmonisch aus dem Lautsprecher. Beide Nummern ließen sich nicht anwählen und mein Kopf sackte nach unten. Ob das wohl an meinem Handy lag? Und tatsächlich: Das Symbol für die Signalstärke war durchgestrichen, ich hatte hier keinen Empfang! Eh man, es ist 2017, wieso zum Geier bekomme ich hier kein Signal? Mein Handy hatte tatsächlich eine Macke. Ich verspürte den starken Wunsch, das Teil in einem weiten Bogen in die nächste Plantage zu pfeffern, doch konnte mich noch rechtzeitig zügeln. Vielleicht könnte ich es später im Notfall noch als Wurfgeschoss einsetzen.
Mir kamen echt fast die Tränen. Wie man sich also vorstellen kann, war ich an diesem frühen Abend nun vollends in bester Laune! Als zudem einige Versuche scheiterten, per Anhalter eine Mitfahrgelegenheit zu ergattern, machte ich mich notgedrungen wieder auf die Socken – mit einem Gesichtsausdruck, den man nur schwer in Worte fassen kann. Nun müsste ich eben bis zum nächsten Restaurant oder Café laufen, dort kurz durchatmen und eine andere Lösung finden. Tony, die alte Platzbacke, hatte mich total verkohlt! Er musste doch wissen, dass um diese Zeit gar kein Bus fuhr. Oh welch schändliche Tat! Irgendwann komme ich zurück und werde ihm das mal ganz freundlich mitteilen.
Mittlerweile waren graue Wolken am Himmel aufgetaucht, die sich ab und zu vor die Sonne schoben. Der erste Regentropfen fiel mir gerade auf die Nase, als ich in einiger Entfernung eine Gruppe asiatisch aussehender Pilger schnell die Straße überqueeren und in einem Seitenweg verschwinden sah. Halt! Nehmt mich mit! Ich sprang in ihre Richtung, doch sie hatten mich wohl nicht gehört und waren schon bald wieder verschwunden. Ich erreichte die kleine Kreuzung und sah, dass der Weg rechter Hand wieder direkt auf den regulären Jakobsweg führte. Jetzt könnte ich genauso gut auf dort weiterlaufen, dachte ich, dann spare ich mir wenigstens die ganzen Dieselabgase. Wenn mir dann wirklich die Kraft zum Weiterlaufen ausgeht, könnte ich wenigstens irgendwo unter einem Baum mit meiner Plane und ein paar Schnüren ein improvisiertes Zelt bauen und dort übernachten. Oder einfach meine Hängematte aufziehen. Für ein karges Abendbrot würden die Reste meines Proviants wohl noch reichen. Nicht gerade begeistert von diesen Aussichten folgte ich nun wieder den gelben Pfeilen und jenem Weg, der die meiste Zeit mehr oder weniger parallel neben der Landstraße verlief. Von der Pilgergruppe, die ich kurz zuvor noch gesehen hatte, war weit und breit keine Spur. Also versuchte ich mich wieder ein wenig aufzubauen und sang laut eins meiner Lieder in den Wald!
Kaum ein Jahr vor meiner Reise hatte ich angefangen, meine Texte größtenteils auf Deutsch zu schreiben, nachdem ein Leipziger Blues-Mundharmonikaspieler sagte: „Eh, man hört bei Deinen ganzen englischen Liedern gleich Deine Vorbilder heraus! John Lee Hooker, Tom Petty, Stones, Mark Knopfler... wenn Du auf Deutsch schreibst, wird das erst wirklich Dein Ding, unverwechselbar eben. Trau Dich mal!“ Das war irgendwann 2016, wenn ich mich richtig erinnere. Und so flötete ich an jenem Abend auf dem Jakobsweg, irgendwo im Wald zwischen Balugaes und Ponte de Lima, aus vollem Hals den “Krautblues“ in die Luft – sowas hatte die hiesige Tierwelt sicher noch nie gehört! Ich war gerade beim “Wer ruft dich an Boogie“ angelangt, als ich hinter einer Kurve zwei Pilger auf einem Baumstamm sitzen sah: Einen braungebrannten Mann so Ende 50 und eine sehr junge Dame. Sie teilten sich gerade eine Banane und winkten freundlich zu mir herüber. Ich war heilfroh, wieder mit jemandem reden zu können und wankte ihnen entgegen. Im Gespräch erfuhr ich: Vater (Paul) und Tochter (Maria) gingen zusammen den Jakobsweg. Respekt! Das hat mich wirklich beeindruckt. Noch größere Augen machte ich, als sie (die gerade erst 16 Jahre als war!) mir sagte, dass die beiden schon in Lissabon gestartet waren und somit, von ein paar Abkürzungen mal abgesehen, bereits eine beachtliche Distanz geschafft hatten. Wow. Leider waren sie in einer Unterkunft irgendwo zwischen Lissabon und Porto von Wanzen gebissen worden und zeigten auf ihre mit runden Pusteln übersähten Beine. Beide hatten sich daraufhin Entzündungen eingefangen, da Wanzenbisse schrecklich jucken und beim Kratzen wohl Dreck in die Wunde gekommen war. Zum Glück waren sie an diesem Tag schon längst wieder auf dem Weg des Besserung. Nach einer kurzen Pause setzten wir uns gemeinsam wieder in Bewegung und erreichten bald eine kleine Dorfkneipe, die von einem portugiesischen Pärchen betrieben wurde. Sie waren sehr freundlich und versorgten uns mit Bier und frisch belegten Brötchen. Innerlich war ich nach all dem hin und her nun wieder sehr beruhigt und knabberte dankbar an meinem Käsebrötchen, als draußen ein leichter Nieselregen einsetzte. Das war knapp! In diesem Moment musste ich wieder an das denken, was Pilgerschwester Steffi mir ein paar Tage zuvor sagte: Der Weg gibt dir das, was du brauchst...sie hatte Recht behalten.
Am Tisch gegenüber spielten ein paar ältere Experten Poker und gaben dabei von Zeit zu Zeit laute Schreie von sich, wenn jemand ein besonders gutes Blatt auf den Tisch legte, oder rülpsten anerkennend. Eine bemerkenswerte Anzahl leerer Bierflaschen befand sich in der Mitte des Tisches, was das Lallen oder Hicksen des ein oder anderen erklärte. Einer der Kerle war so dicht, dass seine blutunterlaufenen Augen in zwei unterschiedliche Richtungen schauten und versuchte, die junge polnische Pilgerin zu drücken und zu küssen – was ihm schließlich eine saftige Ohrfeige einbrachte. Das ging alles sehr schnell! Ich ging davon aus, dass ihr Vater wie ein Berserker dazwischen gehen und sich vor seine Tochter stellen würde, doch er schaute sich die Szene sehr gelassen und leicht amüsiert an. Sie konnte sich mühelos verteitigen, sodass sich der Typ unter dem Gelächter seiner Saufkumpanen schnell wieder aus dem Staub machte. Cooles Mädel!
Während wir den Vorrat an Brötchen und Bier des kleinen Restaurants dramatisch reduzierten, sprachen wir über die nun hoffentlich letzte Etappe des Tages. Auch die beiden sind bei der Suche nach einer Unterkunft erfolglos geblieben und wollten nun nach Ponte de Lima. Wir einigten uns darauf, gemeinsam ein Taxi zu nehmen und uns die Kosten zu teilen. Also zahlten wir, schulterten unsere Rucksäcke und wollten vor dem Aufbruch noch ganz kurz bei einer kleinen Kapelle in der Mitte des Dorfes vorbei schauen, die von ein paar Pilgern als sehr schön beschrieben wurde. Ein paar Gäste grunzten anerkennend zum Abschied und kurze Zeit später folgten wir für ein paar hundert Meter einer schmalen Querstraße entlang eines dichten Waldes. Leider setzte sehr bald ein erneuter Regenguss ein, sodass wir schnell wie der Blitz wieder in Richtung Landstraße flitzten und auf ein kleines Häuschen zusteuerten, um dort ein Taxi zu ordern.
Der spontane Transit deutscher und polnischer Pilger entlang seines Zaunes erregte das nervöse Unverständnis des hiesigen Kläffers, der uns sogleich entgegen wuchtete und sein Missfallen kläffendst kundtat. Mir blieb fast das Herz stehen, als ich wie vom Blitz getroffen zusammen zuckte. Was für ein Scheißer! Sein Bellen hatte das Interesse seines Herrchens geweckt, der auch sogleich vor die Tür trat, ohne dass erst ich die Klingel benutzen musste. Ich bat ihn, laut rufend um den Hund zu übertönen, fernmündlich nach der nächsten Kutsche zu rufen, die kurz darauf auch schon vor uns zum Stehen kam. Das ging aber wirklich schnell! Der Fahrer besah sich zweifelnd meinen PEREGRINO 3000, zuckte dann kurz mit den Achseln und wuchtete das Teil in seinen Kofferraum. Zur Erinnerung schoss ich noch ein paar Bilder von der Kreuzung, von der aus wir starteten. Auf der rechten Seite des ersten Bildes sieht man sogar jenen nervösen Kläffer!
Nun aber los: „Säume nicht, borstiger Fuhrmann! Auf in die Stadt!“
Ich war etwas geknickt, nun doch für ein paar Kilometer abzukürzen, doch mein polnischer Freund sagte: „Keine Sorge, Du hast noch eine Menge Kilometer vor Dir." Tja - das war ohne Zweifel richtig.
Die Fahrt verlief ansonsten schweigend: Kondenzstreifenartig brauste unser Taxi durch einige kleine Dörfchen, während unser Taxifahrer das Lenkrad mit beiden Händen umklammerte und wie bei einem Wettrennen seinem Vordermann dicht auf den Fersen blieb. Offenbar wollte er jedoch ausschließlich den dritten Gang benutzen, sodass die Nadel des Drehzahlmessers tief im roten Bereich war, der Motor laut jammerte und klagte. Bald sahen wir das wunderschön in einem Tal gelegene Ponte de Lima, entkamen glücklicherweise dem Unfalltod durch jähen Aufprall oder Erbrechen durch jähe Reisekrankheit und kamen auf einem kleinen Marktplatz quietschend zum Stehen. Mit zitternden Händen nahm ich meinen Trolley entgegen, entrichtete dem Rallyefahrer meinen Tribut in Form eines zerknietschten Geldscheins und betrachtete mit meinen beiden Mitfahrern die Herberge, die sich nur wenige Meter neben einem hübschen Springbrunnen befand. Dort war es schön & gepflegt, doch wusste ich schon im Vorfeld, dass sie hoffnungslos ausgebucht war. Zum Glück hatte ich mir noch in Tonys Bar einen Platz in einem Hostel knapp zwei Kilometer von hier gesichert. Meine polnischen Begleiter jedoch ließen sich nicht unterkriegen und wollten sich in einem der Gänge auf den Boden legen, mit Isomatte und Schlafsack. Respekt, die Beiden waren wirklich sehr hart im Nehmen! Darauf hätte ich heute keinen Bock mehr gehabt. Also verabschiedeten wir uns und tauschten Nummern aus, woraufhin ich schnurstracks über die uralte, große Brücke über die Lima ging und das wirklich umwerfende Panorama bestaunte:
In der Tat – hier lässt es sich leben! Vielleicht komme ich irgendwann später nochmal vorbei und schaue mir alles in Ruhe an, wie es ja meiner Natur entspricht, doch an diesem Abend war ich wirklich gebeutelt und wollte nichts anderes mehr als schlafen. Ein frisch bezogenes Bett, ein weiches Kissen...*schnurr*. Gerade hatte ich die Mitte der Brücke erreicht, als mich zwei deutsche Pilger abfingen und mich fragten, ob ich der Kerl mit dem „selbstgebauten Roller“ wäre. So erschöpft ich auch war, fing ich natürlich gleich an zu strahlen und präsentierte stolz den PEREGRINO 3000! Kurz darauf stand ich schon auf dem historischen Marktplatz – Wow! – und suchte auf meiner Karte den besten Weg zum Pilgerhostel.
Ich ärgerte mich zwar, dass ich nun noch eine gute halbe Stunde durch den Nieselregen laufen musste, war angesichts des baldigen Endes meiner heutigen Etappe jedoch auch irgendwo besänftigt und innerlich beruhigt. Dennoch kamen mir die letzten knapp zwei Kilometer vor wie 20 und meine Füße flehten nach Gnade. Am Rande der Altstadt erspähte ich endlich hinter einer zugegebenermaßen ziemlich stark befahrenen Straße das dreistöckige Gebäude, in dem sich mein Pilgerhostel befand. Ich konnte es kaum erwarten, mich auf eine weiche Matratze zu hauen. Im Erdgeschoss humpelte ich also gleich auf die Rezeption zu: Der Rezeptionist entpuppte sich als ein netter, leicht phlegmatischer Onkel so Mitte 40, der mit der inneren Ruhe und Ausgeglichenheit eines Amsterdamer Grasverkäufers meine Daten aufnahm, mir einen kleinen Schlüssel reichte und verblüffend entspannt den Weg zum Zimmer beschrieb. Irgendwie mochte ich ihn. Vermutlich hatte er schon eine Menge komischer Typen kommen und gehen sehen, da fiel ich mit meinem Rucksackroller wohl nicht sonderlich auf. Er bot mir sogar an, für kleine Münze meine abgewrackte Wäsche zu waschen und anschließend in einen Trockner zu hauen! Das war natürlich ein großer Pluspunkt, den ich an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen möchte. Im Obergeschoss fand ich mein Zimmer und warf mich kurzerhand auf das einzige noch freie Bett, gleich an der Wand neben der Tür. Bevor ich etwas wegdämmern konnte, hörte ich schon Schritte auf dem Gang und drei muntere Leute kamen herein: Ein Pärchen mittleren Alters (ein Deutscher mit seiner belgischen Freundin; passenderweise hatten sich die beiden vor ein paar Jahren auf dem Camino Frances kennengelernt) und eine junge Russin. Wir verstanden uns auf Anhieb gut und unterhielten uns für eine ganze Weile bei einem gemeinsamen Abendbrot im Gemeinschaftsraum. Als einer der Ersten jedoch verabschiedete ich mich und war bald darauf im Bett verschwunden.
Bevor ich mich schlafen legen konnte, stand nach dem Duschen natürlich noch die obligatorische abendliche Fußpflege a’la Jakobspilger an: Zerknietsche Blasenpflaster entfernen & reinigen, Fersen & Zehen massieren und alles anschließend mit mehreren Schichten Hirschtalgsalbe einreiben. Sofort füllte sich der Raum mit dem stechend-frischen Mentholgeruch meiner Salbe, daher verkroch ich mich schnell unter die Bettdecke und schrieb ein paar Eindrücke in meinen Pilgerblock. Währenddessen kamen auch die Anderen herein, machten sich bettfertig und unterhielten sich ein wenig. Sie sagten mir, dass sie für die kommende Nacht ein größeres Hostelzimmer in einem Dorf namens Rubiaes gebucht hätten und noch ein Bett zu vergeben hätten. Den Flyer des Hostels hatten sie kurz zuvor im Aufenthaltsraum gefunden, direkt angerufen und das Zimmer gesichert. Hey, wie cool! Das Angebot nahm ich gerne an, da die Unterkünfte in Rubiaes wohl überdurchschnittlich gefragt waren: Vor und hinter dem Ort schien die Zahl an Übernachtungsmöglichkeiten eher begrenzt. Ich freute mich über diese tolle Gelegenheit, da ich nicht noch einmal so eine vergurkte Tour wie an diesem Tag erleben wollte. Wie falsch ich da liegen sollte. An diesem Abend jedoch fotografierte ich jedoch den Flyer ab, auf dem die Front des Hostels & der Name abgebildet waren, legte mich einigermaßen zufrieden hin und war recht schnell eingeschlafen.