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Ich fühlte mich wie neu geboren, empfand dennoch das doofe „Ich-wecke-Dich-nun-sanft-Geräusch“ meines neuen Handys als eine bodenlose Frechheit. Wieso überhaupt der Wecker? Ich hatte doch Urlaub, wozu ... ach ja, nun erinnerte ich mich wieder: An diesem Morgen hatte ich ja eine Verabredung zum Frühstück! Also, raus aus den Federn, ab ins Bad, Sachen packen und dann los. Bevor ich aufbrach, reservierte ich mir noch schnell eine Schlafkoje für die kommende Nacht in einer privaten Pilgerunterkunft am Rande der Altstadt von O Porrino, meinem heutigen Ziel. Auf den Bildern konnte ich sehen, dass es dort zig Doppelstockbetten in mehreren Räumen gab, man die einzelnen Kojen aber mit bunten Stoffvorhängen zuziehen konnte. Das sah eigentlich ziemlich gemütlich aus, also zögerte ich nicht weiter. Zack – gebucht!
Der Rezeptionsexperte nahm kurze Zeit später den Zimmerschlüssel entgegen, verstaute ihn in einem Fach auf Höhe seines Waschbeckenbauchs und verabschiedete mich freundlich. Ich verließ das Hostel und freute mich über den wunderschönen Morgen: Blauer Himmel ohne das kleinste Wölkchen, außerdem war es noch angenehm kühl. Mein Knie fühlte sich auch fast wieder ganz normal an! Ein leichtes Zwicken, ok, aber sonst war alles in Butter. Heute zählte in erster Linie unerbittliche Entspanntheit und rücksichtslose Zurückhaltung, damit der Rest brutal abheilen und ich morgen wie geplant die nächste reguläre Etappe bestreiten könnte. Gemütlich und in Zeitlupe lief ich also die breite Straße in Richtung der Festung hinauf, betrat die Altstadt und machte einige Erinnerungsbilder.
Auch wenn ich Valenca heute verlassen würde, eins war klar: Irgendwann würde ich wieder kommen und für ein paar Tage bleiben, um mich noch mehr umzusehen und vielleicht auch an einer Stadtführung teilzunehmen. An diesem Morgen waren die Straßen fast wie ausgestorben, doch in einer der kleinen Gassen begrüßte mich wieder die flauschige Katze, die mir gestern schon aufgefallen war; sie schien zwar noch etwas müde zu sein, war aber bester Dinge und präsentierte sich in kuscheligster Pose:
Meine Pilgerfreundin traf ich in einem kleinen Café, wo wir uns auch gleich über ein leckeres Frühstück hermachten. Langsam merkte ich, dass mein rechter Arm irgendwie schmerzte, wenn ich ihn durchstreckte oder meine Kaffeetasse anhob. Verwundert untersuchte ich daraufhin meinen Oberarm und bemerkte einen komischen roten Kreis, der sich um eine der tieferen Kratzwunden gebildet hatte. Ey, was bist du denn? Die Stelle fühlte sich ziemlich warm an – da hatte sich also tatsächlich etwas entzündet! Vielleicht war ein Stückchen Dorn abgebrochen und stecken geblieben? Ein weiterer Ausflug in eine Apotheke in Tui könnte also vermutlich nicht schaden. Vorerst schulterten wir unsere Rucksäcke, verließen die Altstadt und liefen an einem schweren Tor vorbei, in das über die Jahre scheinbar mehrere hundert Pilger ihre Namen beziehungsweise kleine Botschaften hinterlassen hatten:
Dann war es soweit: Wir betraten die Grenzbrücke über den Rio Minho.
Ein letzter Blick zurück:
Direkt in der Mitte der Brücke befand sich ein mit weißer Farbe auf den Boden gemalter Strich und – zack – waren wir schon in Spanien. Das war ein ziemlich emotionaler Moment und wir nahmen uns ein paar Minuten Zeit, um an dieser Stelle über unsere Erfahrungen in Portugal nachzudenken. Auf das Geländer gelehnt starrten wir auf das Wasser, warfen dann abwechselnd eine Münze in den Fluss und wünschten uns etwas! Meinen Wunsch weiß ich leider nicht mehr so genau, aber gemessen daran, was noch an Gutem für mich kommen sollte, ist er bestimmt in Erfüllung gegangen. Die Hitze des Tages donnerte uns mittlerweile unerbittlich gegen den Schädel, also legten wir auf der anderen Seite des Flusses eine Pause ein, setzten uns auf einen Steg und hielten die Beine ins kühle Nass. Wie schön es dort war! Man konnte auch die Festung von Valenca ganz genau sehen:
Zur Krönung des Vormittags holte ich meinen kleinen Brüllwürfel, der alles bisher gut überstanden hatte, aus dem Rucksack und ließ Piece of truth laufen. Herrlich! Wir haben wirklich ziemlich lange dort gesessen und entspannt, bis kurz darauf eine Armada aus Grundschülern in kleinen Kanus den Fluss hinunter in unsere Richtung paddelte, der Reihe nach auf den Steg hopsten und ihre Boote festbanden. Eine Kanu-AG, wie cool! Sowas hätte mir sicher auch sehr gefallen. Bald wimmelte es von kreischenden Kindern um uns herum, der Steg wankte ein wenig hin und her und die Lehrer bemühten sich nach Kräften, ihre umherwuselnde Gruppe in Richtung Grundschule zu bewegen.
Wir wollten uns auch bald wieder auf den Weg machen, denn es war bereits Mittagszeit. Wir staksten einige steile Wege hinauf, kauften ein paar kühle Getränke in einer Tankstelle und liefen kurz danach an einem Tabakladen vorbei – unverkennbar ersichtlich an einem grünen, direkt über der Tür angebrachten Tabakblatt. Moment mal, hatten die Spanier nicht vor Jahrhunderten den Tabak aus Südamerika mitgebracht, also in erster Linie den ... Schnupftabak?? Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn es hier nicht wenigstens ein paar kleine, halb vergessene Schnupfdöschen im Angebot gäbe. Ich betrat den schönen, holzgetäfelten Laden und fragte die Verkäuferin, ob ... na, ihr wisst schon. Zu meiner großen Freude sagte sie ganz selbstverständlich:
„Ja, gleich hinter dem Schaufenster steht eine Box mit mehreren Marken.“
Halt – mit mehreren Marken? Gab es vielleicht doch noch ein paar spanische Hersteller, von denen ich nichts wusste? Ich unterdrückte einen verzückten Aufschrei, drehte die Box herum und schaute herein, worauf mein Grinsen sogleich erstarb. Da lagen doch tatsächlich drei oder vier deutsche Sorten, genau jene, die man auch bei uns an fast jeder Tankstelle bekommt. Gletscherprise, Löwenprise, Alpina ... die waren zwar nicht schlecht, doch irgendwie hatte ich in einem spanischen Tabakladen etwas anderes erwartet. Aber immerhin gab es wenigstens Schnupftabak, allein das war ja schon prima.
Dazu muss ich sagen, dass ich am gestrigen Tag etwas Feuchtigkeit an einigen meiner Schnupfdosen festgestellt hatte, wohl infolge meines Trips durch den Fluss. Vermutlich war der Lederbeutel mit einer Seite kurz im Wasser gewesen, als ich in einem der Becken herumplatschte. Doch Panik und Verzweiflung ließen wieder nach, als ich feststellte, dass der Tabak selbst trocken geblieben war.
Jedenfalls bedankte ich mich, stellte die Box wieder an ihren Platz und lief mit meiner Pilgerfreundin in Richtung der Altstadt.
Ich konnte gar nicht anders, als von Tui begeistert zu sein. Die Atmosphäre war schwer zu beschreiben, irgendwie so, als ob man in eine romantisch verklärte Version einer längst vergangenen Epoche reisen würde. In einem der Häuser befand sich der Eingang zu einem urig eingerichteten Restaurant – da mussten wir nicht zweimal überlegen! Wir gingen durch den dunklen Innenraum und einen schmalen Gang, der schließlich zu einer wunderschönen, kleinen Terasse führte, von der man bis auf die Festung von Valenca blicken konnte. Dort genehmigten wir uns Käse, leckeres Brot, Oliven und fruchtigen Wein. Bestimmt über eine Stunde saßen wir in dieser Oase der Gemütlichkeit, vor der Sonne geschützt, plauderten und ließen einfach die Seele baumeln.
Nun war es bereits früher Nachmittag, wir mussten wohl oder übel langsam weiter. Nach einem Blick in die Kathedrale Santa Maria ...
... fanden wir eine Apotheke in der Nähe, in der ich die hier ansässigen Kräuterexperten nach einer Tinktur für die pochende und mittlerweile etwas schmerzende Entzündung an meinem Arm fragen wollte. Die Apotheke war ziemlich groß, schnupperte nach Salbei und überraschte mit einem eigenartigen Apparat gleich neben der Tür, den ich zum ersten Mal sah. Was war denn das? Er erinnerte mich entfernt an die Star Trek – Dusche meiner ersten Unterkunft. Es handelte sich jedoch um ein Messgerät, dass gleichzeitig Körpergewicht, Blutdruck, Puls und was ich noch alles ermitteln konnte. Man musste nur zwei Euro einwerfen, die rechte Kralle in eine Öffnung stecken und erhielt kurz darauf seine Messwerte auf einem kleinen Zettel ausgedruckt. Verdammt cool! Natürlich musste ich das gleich austesten. Ergebnis: Der Franta lief innerhalb akzeptabler Parameter. Was meinen Arm betrifft, sah sich die Apothekerin den roten Kreis um die Kratzwunden an und entschloss sich zu einer gewagten Hypothese:
„Das ist eine Entzündung!“
Ach. Gut, jetzt habe ich es verstanden. „Ja. Also, ehm – “
„Da gebe ich Ihnen mal eine antibiotische Salbe, dann geht das schnell wieder weg. Die müssen Sie morgen uns abends draufmachen und gut einziehen lassen.“ Die Tube war zwar nicht gerade günstig, aber was tut man nicht alles für seinen Arm. Mit meinem kleinen Finger verteilte ich auch gleich großzügig einen Klecks auf meinem Oberarm, bevor wir uns wieder auf den Weg machten und den gelben Pfeilen in Richtung Zentrums folgten. Die Entzündung an meinem Arm verlief in den kommenden Tagen zwar nicht gerade appetitlich, heilte dafür aber ohne weitere Probleme wieder ab. Für den Fall, dass die Leserin / der Leser gerade etwas leckeres isst bzw. das in Kürze vorhat, gehe ich hier nicht auf weitere Details ein. Bis auf eine kleine Narbe an jener Stelle erinnert heute jedenfalls nichts mehr an meinen Zwischenfall im Wald von Rubiaes.
Zurück zu Tui: Beeindruckt hat mich vor allem die Schönheit der von Geschäften und einigen kleinen Bars gesäumten Hauptstraße. Der Hammer!
Vor einem Café trafen wir auf die russische Pilgerin, die mir gestern beim Frühstück ja noch Gesellschaft geleistet hatte und uns breit grinsend einen jungen Rumänen vorstellte, den sie gestern in Valenca kennen gelernt hatte. Vermutlich wollten die beiden etwas Zeit zusammen verbringen, daher kauften wir schnell etwas Knabberkram und verabschiedeten uns wieder. Auf der anderen Straßenseite befand sich eine Bushaltestelle, wo wir die Abfahrtszeit nach O Porrino in Erfahrung brachten, wo ich heute abend ja Concetta und Andrea treffen wollte, und setzten uns daraufhin in einen schönen kleinen Park. Die Aussicht war spektakulär ...
Hier verbrachten wir eine gute Stunde, saßen im Schatten eines Baumes und sprachen über all unsere Erlebnisse. Und ... ja, das war prima.
Jedenfalls rollte wenig später der klimatisierte Bus die Straße herunter, während ich wild nach draußen winkte und mich dann entspannt zurück lehnte. Eigentlich wollten wir uns ja noch gar nicht verabschieden, hatten uns aber auf ein Wiedersehen in Padron geeinigt, der letzten großen Etappe vor Santiago.
Der Bus fädelte sich durch eine enge Straße nach der anderen, wobei ich mir der enormen Anzahl an Fahrbahnschwellen bewusst wurde, die gefühlt alle zwei Meter über die Spur liefen. Es wackelte gemütlich hin und her, mein Platz verwandelte sich in eine Art Massagesessel und ich drohte langsam wegzudämmern. Ein paar Haltestellen wurden angefahren und kurz darauf hatte ich auch schon mein Ziel erreicht, bevor mein Kopf nach hinten kippen und ich einschlafen konnte. Ich stieg an einer lauten und wuseligen Hauptstraße aus und schaute wie ein ausgesetzter Dackel in alle Richtungen: Wo war ich nun genau? Ah, da stand ein Wegweiser: Zum Stadtzentrum, die Treppe runter und nach links. Dieser Weg führte mich auf einen von hohen Plattenbauten umgebenen Platz, in dessen Mitte eine kleine Kirche stand. Das alte Gebäude wirkte im Schatten all der architektonischen Brechmittel irgendwie verloren.
Beim Herumdrehen sah ich eine junge Mutti, die ihren vielleicht zweijährigen Jungen schräg hochhob, damit er in einen nahen Busch pullern konnte. Verträumt sah er in den Himmel und gähnte, illerte dann gedankenverloren zu mir, als wollte er ganz beiläufig sagen: „Na Alter, was läuft?“ Verstörend. Als nächstes suchte ich eine Toilette! In einer nahe gelegenenen Pizzaria wurde ich fündig, wollte jedoch nicht einfach schnurstracks an der Theke und den leeren Tischen vorbei zum WC rennen, sondern den Wirt wenigstens vorher um Erlaubnis fragen. Dieser eierte gerade mit einem Handtuch umher, bemerkte mich und schaute mich fragend an. Das war DIE Gelegenheit, meine spärlichen Spanischnotizen anzuwenden! Zwar hatte ich es eigentlich eilig, kramte aber meinen schlauen Zettel mit all den wichtigen Übersetzungen für den Notfall aus einer Seitentasche und las schnell vor:
„Tienes unos ojos tan hermosos ... “ Er riss die Augen auf und starrte mich an.
Hey, Moment mal ... das hieß ja gar nicht „Darf ich Ihr WC benutzen?“ In meiner Hast hatte ich die falsche Zeile vorgelesen und ihm stattdessen gesagt, dass er wunderschöne Augen hat. Verdammt nochmal! Aus Angst, er würde gleich ein Bierglas nach mir werfen, suchte ich schnell die richtigen Zeile heraus und schickte laut und deutlich hinterher:
„Nein nein, warte mal, hör zu: ¿Puedo usar tu bañio?“ Ja, so war es sicher richtig. Doch er sah mich ratlos an und zuckte mit den Schultern. Ich sagte meinen Satz also nochmal, ganz langsam und noch deutlicher. Immer noch keine Reaktion. Mensch, ich machte mir gleich in die Hosen! Hibbelig und etwas gereizt fragte ich ihn erneut, diesmal aber auf Englisch. Das verstand er scheinbar sofort, denn er lachte und zeigte mit der rechten Flosse auf die Tür zum WC. Na toll. Hatte ich vielleicht zu sehr genuschelt? Wie auch immer, ich steckte den doofen Zettel weg und wackelte ein paar Minuten später erleichtert wieder auf den hässlichen Platz. Nun weiter in Richtung in Richtung Downtown O Porrino!
Vorbei ging es an einigen Ramschläden, aus denen jeweils aufgedrehte Stereoanlagen spanischen Pop auf die Straße schallten, was ein buntes, Kopfschmerz-verheißendes Durcheinander ergab. Überall waren Leute, die sich dicht aneinander gedrängt durch die Straßen quetschten, vorbei an spielenden Kindern, Straßenmusikern und gröhlenden Gemüseverkäufern. Eine bunte Mischung aus Kindergarten, Touristengedränge, Theater und Jahrmarkt! Das gefiel mir recht gut und wenn ich die Schilder richtig las, konnte meine Unterkunft auch nicht mehr weit weg sein. Vorerst wollte ich jedoch einen Happen zu mir nehmen und dort auf Concetta und Andrea warten, die auch bald eintreffen mussten. In einer Seitenstraße, von der aus man mit etwas Abstand einen guten Blick auf das Gewusel nehmen konnte, fand ich ein gemütliches Restaurant, vor dem ich einen Tisch ergatterte und entspannt die Nase in die Abendsonne hielt.
Ein bulliger Mann, nennen wir ihn einfach Bulli, der locker als Türsteher hätte durchgehen können, nahm meine Bestellung entgegen und empfahl mir die Spezialität der Region: Eine Art Pizza, die jedoch zum größten Teil aus Rühereiern, Zwiebeln, Käse und Tomaten bestand. Eigentlich hasse ich Eier, aber ein Versuch könnte ja nicht schaden – vielleicht schmeckte es ganz gut.
Warum ich keine Eier esse? Als ich noch in der Kinderkrippe war, wurden uns Kiddis einmal Senfeier zum Mittag serviert, die ich davor wohl noch nie gegessen hatte und daher neugierig zugriff. Leider war das Ei offenbar vergammelt, denn mir ging es daraufhin sehr mies. Das hat sich so in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich ein Frühstücksei nur anzusehen brauche und mir wird schon ganz anders. Rüherei ging im Notfall noch, stark gewürzt zumindest, insofern wollte ich an diesem Abend jener besonderen Spezialität wenigstens eine Chance geben. Schwerer als jenes Ungetüm, welches mir am Abend des fünften Tages in Popoa de Varzim serviert wurde, konnte es ja eigentlich nicht sein.
Bulli freute sich, notierte die Bestellung und wuchtete zur Küche. Verblüffend schnell kam er nicht nur mit einer leckeren Blubberbrause, sondern einem riesigen Teller zurück, auf dem sich ein wahres Eier-, Zwiebel-, Käse- und Tomatengebirge befand. Heiliger Sch ... ! Da mussten über fünf Eier, eine faustgroße Zwiebel, mehrere Tomaten und zig Käsescheiben drin sein. Aaargh: Die Eier waren außerdem ja gar nicht rühereimäßig, sondern sind ungerührt nicht umgerührt worden! Mir kamen fast die Tränen. Aus einem See von zermatschten Frühstückseiern lachte mir das Eigelb entgegen und ich spürte bei dem Geruch schon einen leichten Würgreiz aufsteigen. Übertrieben laut dankte ich Bulli, der mir guten Appetit wünschte und sich wieder den anderen Gästen widmete. Zunächst futterte ich den Brotkorb leer, trank meine Limonade aus, bestellte einen weiteren Brotkorb und angelte dann hier und da ein Stückchen Zwiebel von meinem riesigen Teller und aß zweifelnd langsam etwas von dem Ei. Naja, die ordentlich durchgebratenen Stückchen waren ganz ok, aber für kein Geld der Welt würde ich den labberigen Eiermatsch anrühren. Beim Knabbern fiel mir ein seltsamer Typ in einem roten Hemd auf, der von Haus zu Haus die Straße herunter kroch, scheinbar ziemlich besoffen. Hier wurde es zumindest nicht langweilig! Mehr und mehr kämpfte ich mich in Richtung Telleroberfläche, bis sich mein Magen schockiert und entzürnt zu Wort meldete und ich mich geschlagen geben musste. Keine Chance – das würde ich nicht schaffen, auch wenn mehr als die Hälfte noch auf dem Teller lag. Ich legte Messer und Gabel zur Seite und atmete tief durch. Jetzt musste ein Erste-Hilfe-Kräuterlikör her, ansonsten müsste ich bis morgen früh hier sitzen bleiben.
„Oh. Hat es Ihnen nicht geschmeckt?“ Schon war Bulli bei der Stelle und machte einen verwunderten Eindruck. Scheinbar ließen die Gäste sonst keinen Krümel seines Spezialgerichtes übrig.
„Doch doch, es war ... hm ... zu gut! Da habe ich es einfach nicht geschafft!“ Zugegeben, das war wenig glaubwürdig. „Oh und einen Kräuterlikör bitte. Mit ganz viel Kräutern und extra Likör, jawohl!“
Wenige Minuten später und nach Zuführung des wohltuenden Destillates blinzelte ich wieder ganz zufrieden in die Sonne und genoss die frische Abendluft. Wo waren eigentlich Concetta und Andrea? Ich schrieb sie an und erfuhr, dass sie noch gar nicht eingetroffen waren und sich daher, sobald sie ihre Herberge erreicht hätten, gleich ins Bett schmeißen wollten. Also vereinbarten wir kurzerhand ein gemeinsames Frühstück für den nächsten Morgen in einem Café um die Ecke, um die folgende Etappe zusammen zu laufen. Das klang vernünftig! Ehrlichgesagt wollte ich nämlich auch schnell ins Bett, so überaus herrlich fühlte ich mich noch nicht. Also bestellte ich die Rechnung, die Bulli auch sogleich brachte, bezahlte und fragte ihn zuletzt noch, wie ich von hier aus am schnellsten meine Herberge erreichen könne. Er warf gerade einen Blick auf meine Karte, als sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter legte! Laut flötete ich auf und zuckte herum: Da stand plötzlich der Typ mit dem roten Hemd, wankend, und schaute mich mit seinen glasigen Augen an. Nennen wir ihn an dieser Stelle Saufi.
„Was zum - ...“ Ich merkte leichte Wutigkeit aufsteigen; ich hasse es, wenn man mich einfach so anpatscht! Noch immer lag seine faltige Kralle auf meiner Schulter. Mit geholperten Englisch lallte er mir entgegen:
„Hey, du wollen in Herberge? Da muss du dahin ... “ (er zeigte in irgendeine Richtung, passenderweise zu einem Wohnhaus, vor dem eine Katze saß und gähnte) „ ... das kannst du gar nicht *hicks* verfehlen!“ Er grinste mich schief an und erwartete wohl, dass ich nun unfassbar dankbar war.
„Ja ... danke sehr“, grummelte ich hervor. „Lassen Sie mich jetzt bitte wieder los.“
„Schau ... da ... musste du hin. Ich zeig dir!“ Er hielt mich immer noch fest und hatte offenbar nicht die Absicht, mich in Bälde loszulassen. Vermutlich auch, weil er sonst nach hinten weggekippt wäre – er war wirklich bis oben hin voll. Nun zeigte sein linker Arm nicht mehr auf die Katze, sondern weiter nach unten auf einen Gullideckel. „Da...“
„Alter, lass mich jetzt los.“ Ich wurde langsam grummelig. Bulli, der bis jetzt vor Verblüffung und Belustigung erstarrt war, erwachte nun wieder und ging einen Schritt auf Saufi zu:
„Lass‘ ihn los ... “ Doch Saufi blickte nur verwirrt von mir zu ihm und wiederholte:
„He, ich jetzt zeigen den Weg!“ Er griff nach meiner Karte und kam dabei noch näher, sodass ich für einen Augenblick sein schmieriges Goldkettchen und das Ergebnis des gescheiterten Versuchs, seine spärliche Haarpracht mit kiloweise Gel nach hinten zu klatschen, bewundern konnte. Da platzte mir der Kragen!
„JETZT REICHTS! Nimm endlich deine kack Finger von mir!!“ Er ließ einfach nicht los und ich war kurz davor, ihm die Nase neu zu positionieren. Nach wie vor schaute er mich einfach nur fragend an, komplett in einer anderen Welt schwebend. Letztendlich schubste ich ihn mit einem Ruck weg von mir, woraufhin er in seinem Suff gleich einige Meter weiter nach hinten stakste wie ein überreizter Flamingo. Bulli begleitete das Ganze mit nervösen Blicken. Saufi hatte sich derweil wieder gefangen und wollte nun auf Bulli zustolpern, entschloss sich auf halber Strecke jedoch dagegen, hinkte stattdessen mühsam die Straße hinunter und verschwand. Was soll ich sagen – eine wunderbare Szene, blutdrucksteigernd und belebend. Die Gespräche all der anderen Gäste, die bei Saufis unverhofftem Auftritt komplett verstummt waren, nahmen langsam wieder Fahrt auf und ich wollte mich nun wirklich zur Herberge begeben. Wo die war, wusste ich ja jetzt.
Ich bedankte mich bei Bulli für seine ausufernde Unterstützung, wuchtete meinen Rucksack auf die Schultern und lief zurück zur Hauptstraße, dann links und an einer S-Bahnhaltestelle vorbei. Einem Instinkt folgend vertraute ich auf Bullis Wegbeschreibung, bei Saufis hatte ich gewisse Zweifel. Ein Weilchen ging es an einer stark befahrenen Straße entlang bis zu einem Park am Rande der Altstadt, wo ich meine Unterkunft fand und mich im Anmeldungsbereich vor einen kleinen Tresen stellte. Dahinter packte eine junge Frau gerade ihren Rucksack zusammen und wollte offenbar gerade aufbrechen. Wie sich herausstellte, kam ich tatsächlich gerade im letzten Moment - nur fünf Minuten später und ich hätte wieder zurückgehen und Saufi nochmal um Rat fragen können. Aber so hatte ich Glück, bekam einen Zettel mit dem WLAN-Passwort und eine Schlafkabine zugewiesen. Der Rest der Herberge war offenbar ausgebucht, denn überall herrschte ein munteres Gewusel in zig verschiedenen Sprachen und jede Kabine schien belegt zu sein. Das Ganze erinnerte mich an eine Szene aus dem Film Das Boot, in der ein Mitglied der U-Bootbesatzung durch den Mittelgang hechtete, in dessen beiden Seiten reihenweise Matrosen in winzigen Kabinen eingepfercht lagen und ab und zu neugierig den Kopf herausstreckten. Verglichen damit waren die Kabinen hier drin riesig und unter Wasser waren wir auch nicht. Jede hatte einen blauen Stoffvorhang, eine Steckdose und eine kleine Lampe. Richtig gemütlich! Wenn ich mich richtig erinnere, gab es je 25 Kabinen in zwei Räumen mit zwei dazwischen liegenden Duschräumen, sowie eine Küche und einen Gemeinschaftsraum im Obergeschoss. Ich schmiss meine Sachen in die Koje, duschte mich und ging nach oben in den Gemeinschaftsraum. Dort schrieb ich einige Zeilen in den Pilgerblock, als mich ein freundlicher Herr, den ich auf Ende 50 schätzte, auf englisch ansprach:
„Junger Freund, würdest Du mir helfen, diese Weinflasche zu leeren? Ich habe glaube ich schon etwas zuviel getrunken." Er hatte einen Stoppelbart, trug eine Nickelbrille und strahlte irgendwie Lebensfreude und großen Optimismus aus. Ein sehr sypathischer Mensch.
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und setzte mich zu ihm. Matthew hieß er, bevorzugte jedoch die Kurzform Matt. Er war Pastor in Minnessota und unternahm diese Reise in erster Linie aus religiösen Gründen. Kurz darauf gesellten sich zwei Frauen zu uns an den Tisch: Eine aus Stuttgart, die andere aus Sankt Petersburg. Das war eine gesellige Runde, in bester Stimmung und leicht angeheitert von Rotwein.
„Wie ist es Dir eigentlich bisher auf dem Camino ergangen?“, fragte mich Pastor Matt und sah mir freundlich in die Augen.
„Tja ... durchwachsen, würde ich sagen.“ Ich wurde etwas nachdenklich bei diesem Thema.
„Wieso - oh, bist Du der mit dem Trolley?“
„Jep, der bin ich. Der Typ mit dem rollenden Rucksack. Naja, jetzt trage ich ihn zumindest wieder."
Der Pastor dachte nach. „Aber jetzt bist Du hier und es geht Dir gut. Du hast Glück gehabt!" Schließlich lenkte er das Gespräch auf ein anderes Thema: „Franta, was machen wir jetzt? Der Wein ist alle.“
„Oh nein ... " So schlimm fand ich das eigentlich gar nicht, denn ich war schon leicht angetrieselt. Heute hatte ich eindeutig zu wenig Wasser getrunken und der Alkohol haute rein wie eine Bombe. Noch ein kleines Gläschen und ich würde anfangen, ungefragt laut zu singen. Letztendlich wurde tatsächlich irgendwo noch eine Flasche aufgetrieben und untereinander aufgeteilt, bevor wir uns lange nach Sonnenuntergang verabschiedeten und zu unseren Kojen begaben. Ich kann mich nur noch schemenhaft daran erinnern, wie ich die kleine Leiter nach oben gekrabbelt bin, meinen blauen Vorhang zugezogen und noch etwas Musik gehört habe. Keine Frage - heute war ein toller Tag und ich war so happy, dass mich auch das dröhnende Geschnarche all der Leute hier drin nicht störte. Möglicherweise lag das auch etwas am Wein.