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Von allen wichtigen Fragen, die man sich für gewöhnlich im Alltag stellt, schrumpfte auf dem Jakobsweg für mich alles auf Drei zusammen: 1. Wo bekomme ich Trinkwasser, 2. Wo kann ich schlafen und 3. Welche Lösung finde ich, wenn ich körperlich oder mental nicht mehr weiter komme. Alles andere ist die meiste Zeit tatsächlich eher nebensächlich geblieben. Der Weg gab mir in der Tat zwar bisher das, was ich brauchte (wie Steffi mir während des ersten Tages völlig richtig sagte), doch waren es stets diese drei Fragen, die ich mir abwechselnd stellen musste. Wenn man sich an die Wegmarkierungen hielt und nicht zu sehr auf Risiko spielt, war das in den meisten Fällen auch kein Problem. Aber was macht man, wenn man Franta heißt, sich überschätzt und wie der letzte Dödel blindlinks einem nicht markierten Weg folgt? Dann kommen schnell weitere Fragen auf einen zu, die man nicht sofort beantworten kann: Wo geht es zurück auf den Weg? Wo sind meine Freunde? Wo bin ich gerade überhaupt?
Vielleicht war es schon mein erster Fehler, bereits vor ein paar Tagen querfeldein von Povoa de Varzim nach Rates über die Berge zu wandern, auch auf nicht markierten Wegen und ganz alleine. Ich meine – klar hat es funktioniert und ich war stolz, auch über Umwege mein Ziel erreicht zu haben. Damals hatte ich aber auch wirklich Glück und wurde danach offensichtlich ein bisschen zu selbstsicher. Aber warum fange ich gleich so theatralisch an?
Aufgrund der Masse an Eindrücken und Ereignissen trenne ich Tag acht in zwei Teile: Der sprichwörtliche Weg zur Katastrophe, Teil 1, und wie ich mir beinahe den Hals gebrochen und als durchweichtes Bündel in einem Gebirgsbach gelandet bin, Teil 2. Irgendwie habe ich mich ein wenig davor gefürchtet, das alles in Gedanken noch einmal zu durchleben und aufzuschreiben. Das auf dem Jakobsweg an einem Tag gefühlt soviel auf einen einwirkt wie normalerweise innerhalb einer Woche, ok – daran hatte ich mich bereits ein wenig gewöhnt. Auch von zeitweise ungewöhnlich starken Gefühlssprüngen waren weder meine Pilgerfreunde noch ich verschont geblieben, aber das gehört auf dieser Reise auch irgendwie dazu. Nur gibt es für alles eine gewisse Grenze, ab der die Sache haarig wird. Dass dieser Punkt heute kommen würde, deutete sich an diesem Morgen aber in keiner Weise an.
Freitag, der 03.06.2017, achter Tag: Auf dem Rücken liegend wachte ich auf und überlegte, wo ich eigentlich war. Ach ja, Ponte de Lima! Alles klar. Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos zogen blasse Schimmer über die Zimmerdecke, wobei das Muster der prähistorischen Blümchen-Gardine deutlich sichtbar wurde, akustisch begleitet von dem regelmäßigen Tröpfeln des Regens. Der Wetterbericht hatte also Recht behalten. Hätte ich nun doch im Wald übernachten müssen ... bei dem Gedanken zog ich meine Decke gleich ein Stückchen höher. Auch wenn ich mich in diesem Hostel irgendwie nicht richtig wohl fühlte, war ich doch wahnsinnig dankbar für mein warmes Bett, drehte ich mich die andere Seite und kuschelte mich tiefer in mein Kissen. Vorsichtig rieb ich meine Füße aneinander: Keine großen Schmerzen, keine Blasen – sehr gut. Was hatte ich für ein Glück! Diese Geleinlagen machten sich wirklich gut. Am Ende der Reise würde von Letzteren bestimmt nur noch ein schmieriges Etwas auf dem Boden meiner Schuhe übrig bleiben, hehe. Wenn doch nur dieser Muskelkater überall nicht wäre ... In Gedanken an ein warmes Fußbad schlummerte ich wieder ein.
Lange dauerte es nicht und ich wurde wieder wach. Jemand schlich an meinem Bett vorbei und wuselte in Richtung Tür. Ja, richtig: Unsere russische Pilgerschwester wollte bereits SEHR früh aufbrechen und ließ sich durch nichts und niemanden bremsen! Sie bemerkte, dass ich wach war und lächelte mir freundlich zu. „Good morning“, formte sie mit ihren Lippen, blieb aber stumm, um das Pärchen nicht zu wecken. Sie lagen noch eingerollt in ihren Betten rechts von meinem und schliefen tief und fest. Ich lächelte zurück und fragte mich, wie spät es wohl war. Vielleicht halb sechs? Draußen war es noch völlig dunkel, besonders lange konnte ich also noch nicht geschlafen haben (für meine Verhältnisse zumindest).
Noch bevor sie das Zimmer mit ihren Sachen verlassen hatte und herunter in den Aufenthaltsraum gegangen war, schlief ich schon wieder ein – jedoch nur, um gefühlt zehn Minuten später wieder aufzuschrecken. Nun waren die Beiden aktiv, packten ihre Rucksäcke und grüßten mich fröhlich. Wirklich wach war ich noch immer nicht, grunzte aber so freundlich wie möglich zurück und begann etwas resigniert, mich aus dem Bettlaken zu schälen. Zum Glück hatte sich meine gestrige Sorge vor einer Erkältung nicht bestätigt: Alles war im grünen Bereich und sämtliche Körperfunktionen wurden, soweit ich das beurteilen konnte, zu meiner vollsten Zufriedenheit aufgeführt. Ein fahl-blaues Licht drang durch die Fenster und versprach einen weiteren schönen, milden Sommertag. Nach einem Funktionscheck der Duschanlage (lief super!) nahm ich meine frisch gewaschenen Sachen entgegen und konnte so zum ersten Mal seit einer Woche wieder ein richtig sauberes Hemd tragen. Daher entrichtete ich dem lieben Hemdwäscher einen Spezialtribut, bevor das Frühstück aufgeknabbert wurde. Einem hohen Plastikbehälter entströmte ein leckerer Geruch, der mein Interesse weckte: Die hellbraune Brühe stellte sich als eine Art Kaffee heraus, um die ich nach einer vorsichtigen Kostprobe jedoch einen großen Bogen machte. Wie der Brei um die heiße Katze, oder wie das heißt. Wie auch immer: Ich angelte mit einem Beutel Earl Grey in frisch aufgebrühtem Wasser herum und erfreute mich kurz darauf an frischem Tee; der Chlorgeschmack des Wassers gab dem Ganzen ein ganz besonderes Aroma. Dazu futterte ich ein Brötchen nach dem anderen und fühlte mich langsam mehr oder weniger gewappnet für den neuen Tag. In Gedanken ging ich noch einmal meine Gepäckliste durch und vergewisserte mich, dass ich auch wirklich nichts vergessen hatte: Ladegerät aus der Steckdose gezogen ... check ... Geldbörse, Pilgerausweis und Karte ... hatte ich dabei, check ... Schnupffläschchen aufgefüllt ... nanu ... WO WAR MEIN SCHNUPFFLÄSCHCHEN ... ach hier, check ... gut, nur Wasser und Bananen musste ich noch kaufen – ansonsten war alles da!
Da mir nun leider die Gründe ausgingen, noch weiter herumzutrödeln, zurrte ich die Gurte am PEREGRINO 3000 fest, verabschiedete mich vom entspannten Rezeptionisten und pflanzte meinen Hut auf, da es draußen ein wenig nieselte. Lange könnte der Regen jedoch nicht dauern, da die Wolken sich mehr und mehr lichteten und tiefblaue Flecken sichtbar wurden. Bis zum nächsten Sonnenschein dauerte es hier zum Glück ohnehin meistens nicht sonderlich lange. Hin und her gerissen zwischen freudiger Erwartung auf den neuen Tag und morgendlich-griesgrämigem Trieftum verließ ich das Hostel und murmelte in Richtung Stadtzentrum.
Dort eingetroffen nahm ich mir ein paar Minuten Zeit, um das Panorama in die Erinnerung zu brennen – diesmal vom anderen Flussufer aus. Rechts neben der mayestätischen Brücke ragten einige moosbewachsene Inselchen aus dem Fluss, der gerade Niedrigwasser führte. Neben dem Flussufer stand eine große Weide, deren langen Zweige langsam hin und her waberten. Irgendwie mag ich Weiden – da ist immer Bewegung drin. Auf den Bilder ist leider keine Weide zu sehen, aber ich schwöre: Da war irgendwo eine!
Um dieses Bild noch perfekter abzurunden, falls das überhaubt möglich war, fand auf dem altehrwürdigen Platz vor der Brücke gerade ein historischer Markt statt: Dutzende Leute in ulkigen Klamotten tummelten sich um Brot- und Weinstände, Körbe voller frischem Obst und Gemüse und Tierkäfige, in denen einige dicke Hühner saßen und irritiert nach draußen schauten. Da ließ ich mich natürlich nicht lumpen und stürzte mich direkt in die muntere Menge, kaufte mir ein Stückchen Kuchen und lauschte dem lustigen Geplapper. Natürlich verstand ich nirgendwo ein Wort, nur das flehende Gackern eines Huhnes in einem der Käfige konnte ich entfernt interpretieren.
Ich schoss ein paar Erinnerungsfotos, überquerte die Brücke ...
... und befand mich bald wieder auf dem kleinen Platz neben dem Springbrunnen, wo gestern Abend unser Trip mit dem rasenden Taxifahrer endete.
Laut Karte müsste ich von hier aus wieder auf Hauptroute kommen, also hielt ich nach dem nächsten gelben Pfeil Ausschau. Da verließen ein paar Pilger die Herberge und steuerten zielsicher am Brunnen vorbei in Richtung einer Seitenstraße. Na, wenn die nicht wissen wo es lang geht – wer dann? Ich folgte ihnen also und sah wenig später bereits einen breiten gelben Pfeil auf einer Hauswand.
Hehe, nun war wieder alles easy. Oder? Nun war ich zwar wieder auf dem Jakobsweg, ok, doch es dauerte nicht lange und die Beschaffenheit des Bodens änderte sich dramatisch. Kurz hinter der Stadt begann ein sehr langer, seit zig hundert Jahren unverändert bestehender Wegabschnitt: Breite, unebene Steine, nass und glitschig und an einigen Stellen abgesenkt, sodass das nächtliche Regenwasser dort tiefen Pfützen gebildet hatte. Zu Fuß war es schon schwierig genug, ohne größere Stürze durchzukommen. Mit meinem PEREGRINO 3000, der bis dahin in aller Ruhe hinter mir her rollerte, war es eine einzige Katastrophe! Bei jedem einzelnen Schritt verlor er das Gleichgewicht und fiel auf die Seite, schließlich rutschte auch noch mein Wanderstock aus der Verankerung und ließ sich nicht mehr so leicht in seine alte Stelle schieben, da das Holz an dieser Seite schon etwas eingedrückt war.
So lief das ungefähr für eine gute halbe Stunde: Ich ging einen Schritt – rumms! Aufrichten, notdürftig reparieren, meckern, ein weiterer Schritt voraus – rumms! Was ich noch nicht erwähnt habe: Linker Hand verlief ein schmaler Mauerabschnitt, auf dem man problemlos laufen konnte ... jedoch nur, wenn man keinen Gepäcktrolley schräg hinter sich her zog! Mir blieb auf die Schnelle nichts anderes übrig, als den matschigen und teilweise kaum passierbaren unteren Weg zu nutzen, während meine gepäcktrolleylosen Pilgerfreunde unbeschwert an mir vorbei sausten und sich wahrscheinlich wunderten, warum ich nach jeder breiten Pfütze eine Zwangspause einlegte. Rechter Hand wuchsen dichte Büsche, die Mauer auf der anderen Seite konnte ich wie gesagt nicht benutzen, also ging es nicht anders. Mein Blutdruck stieg merklich an und die kleine Ader neben meinem rechten Auge pulsierte schon sportlich, als ich mir einen Moment des Zornes gestattete: Laut auf sächsisch fluchend, damit es keiner verstand, und zutiefst entnervt donnerte ich den armen PEREGRINO 3000 gegen die Mauer und starrte wütend umher! Wie zum Geier sind die Leute damals mit Pferd, Esel und Wägelchen hier voran gekommen?! Man man man. Zwei etwas ältere Pilger huschten lautlos und mit nervösem Blick an mir vorbei, vermutlich strahlte ich in diesem Moment keine Tiefenentspanntheit aus. Sei es drum, jetzt aber genug mit dem Gezeter, denn irgendwie musste es ja nun weiter gehen. Nach kurzer Denkpause entschloss ich mich dazu, die heute morgen noch so sorgsam festgezurten Gurte von Gestell & Rucksack zu lösen, mir diesen wie jeder normale Mensch schnöde auf den Rücken zu setzen und den Trolley in die Hand zu nehmen. Auf diese Art löste ich die erste Herausforderung des Tages und hatte nach einer Weile wieder guten alten Feldweg erreicht, auf dem es nach einer weiteren Minipause wie gehabt weiter ging. Der nächste Wegabschitt war zum Glück deutlich einfacher zu laufen, da der huckelige Waldboden in groben Asphalt überging und in sanften Bögen ohne größere Steigungen an einsamen Höfen und Sommerhäuschen vorbei führte.
Die Bäume standen bald ziemlich eng beieinander und die Luft war etwas kühler als auf den weiten Feldern. Ganz vertieft war ich in meinen Gedanken und wäre fast schon im Laufen eingeschlafen, als ich links vor mir ein paar Pilger stehen und einen wunderschönen Wasserfall bewundern sah. Der sah wirklich klasse aus, aber ich hatte mal wieder ein ungutes Gefühl des Zu-spät-seins und tippelte weiter. Wohlmöglich hätte ich sonst mit offenem Mund eine Stunde doof rumgestanden und würde meine heutige Etappe nicht mehr schaffen – bis Rubiaes war es noch eine gefühlte Ewigkeit! Schreikrämpfe nach einem Blick auf die Karte würden mich jedoch auch nicht weiter bringen, also setzte ich dumpf immer einen Fuß vor den anderen.
Irgendwie trat ich an diesem Tag andauernd falsch auf, sodass mir irgendwann stark die rechte Kralle schmerzte, was mit jeder Minute unerträglicher wurde. Einen knappen Kilometer legte ich humpelnd zurück und war mir gar nicht bewusst, wie elendig langsam ich dabei eigentlich war. Die Experten, die vorhin noch den Wasserfall betrachteten und eigentlich weit hinter mir sein müssten, liefen an mir vorbei und grüßten freundlich. Junge, so wird das doch nichts! Leider munterte auch die schöne Landschaft mich nicht wirklich auf.
Mit dem Gesicht zur Faust geballt und weit nach unten gerichteten Mundwinkeln – jetzt war es wirklich nicht mehr witzig – erreichte ich im Schneckentempo das nächste Dorf und suchte eine Bar. Dort angekommen tankte ich zunächst einige koffeinhaltige Erfrischungsgetränke in rauhen Mengen, bevor ich eine außerplanmäßige Fußpflegeaktion startete. Nach dieser Pause, in der mehrerer Schichten Hirschtalgsalbe und ein neues Blasenpflaster über meine rechte kleine Zehe geklebt wurde (sicher ist sicher!) atmeten meine Füße wieder auf und waren bereit für die letzte Etappe! Als ob der Jakobsweg jene Bereitschaft gleich einem Test unterziehen wollte, stieg der Weg direkt hinter dem Dorf sehr steil an. Schnaufend machte ich mich also an den Aufstieg und schlenkerte dabei immer ein wenig von links nach rechts quer über den Weg, um die Steigung besser nehmen zu können. Es dauerte nicht lange und ich erreichte einen Teil des dahinter liegenden Waldes, der ziemlich mitgenommen aussah. Wohlmöglich hatte hier eine Rodung stattgefunden? Die Szene sah wirklich trostlos aus – wie eine klaffende Wunde, die man der Natur zugefügt hatte. An dieser Stelle schoss ich unter anderem ein Bild von meinem PEREGRINO 3000; das nächste verwackelte Bild an diesem Tag sollte ihn auf dem Grund eines Gebirgsflüsschens zeigen.
Vorerst war ich jedoch guter Dinge, machte mich wieder auf den Weg und überquerte kurze Zeit später einen kleinen Bach, als hinter einem Stacheldratzaun dicht neben mir ein riesiger Schäferhund unangekündigt den Aufstand probte. Man, was hatte ich mich da erschrocken! Durch gutes Zureden ließ er sich leider nicht beruhigen, sondern bellte mir eine Beleidigung nach der anderen entgegen. Oh welch eigensinniger Wach-Pelzball! Möglichst unbeeindruckt verließ ich ihn und das dunkle Anwesen, welches er offensichtlich plump zu verteidigen gedachte.
Mal ehrlich – mit Hunden hatte ich auf dieser Reise wirklich nicht besonders viel Glück! Der nächste Teil des Weges wurde nun wieder etwas ruhiger, wenn auch nicht gerade wunderschön anzusehen. Für Fans plötzlich auftauchender Betonmonumente – in diesem Fall eine große Autobahnbrücke – wurde hier alles geboten! Ein Pfad führte steil nach unten, schlängelte sich an den Pfeilern vorbei und lief auf der anderen Seite wieder nach oben. Ich will wirklich nicht nörgeln, aber diesen Abschnitt würde ich lieber aus meinem Gedächtnis streichen. Immer, wenn ein Fahrzeug die Brücke überquerte, verursachten die Reifen dumpfe Klonk-Klonk … Klonk-Klonk - Geräusche, welche hier unten seltsam verstärkt wurden und mehrmals hin und her hallten. Irgendwie unheimlich!
Zum Glück erreichte ich bald darauf einen wirklich idyllischen Wegabschnitt, …
… , auf dem mich jedoch zunächst eine riesige tote Schlange begrüßte, die wie ein alter Fahrradschlauch über einem Ast baumelte. Naja! Der interessierte Leser wird mir hoffentlich verzeihen, dass ich diese rührende Szene nicht im Detail fotografiert habe. Nach ein paar hundert Metern traf ich jedoch einen ganz besonderen Menschen: Keith, einen britischen Pilger, der auf einer kleinen Bank saß und gerade eine Banane aß. Ich leistete ihm Gesellschaft und verputzte die Reste meines Proviants, bevor wir uns wieder auf die Socken machten und gemeinsam die nächsten Kilometer abrissen. Irgendwie freundeten wir uns sofort an, was auf dem Jakobsweg ja nicht selten passierte, doch war die Etappe zusammen mit Keith für mich etwas ganz besonderes. Auch wenn er mehr als doppelt so alt wie ich, fühlte ich mich von ihm wirklich sehr ernst genommen, respektiert und geschätzt und hatte den Eindruck, dass er sich aufrichtig freute, mit mir zu plaudern. Wir sprachen über Familie, Freunde, Musik, unsere Arbeit und überhaupt unser bisheriges Leben; von Zeit zu Zeit legten wir eine Denkpause ein und dachten über das Gesagte nach, dann präsentierte einer von uns das Ergebnis seiner Überlegungen und das Gespräch begann wieder von Neuem.
Man darf nicht vergessen: Jeder, der diesen Weg ging, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einiges an körperlicher und mentaler Kraft eingesetzt und so gab es zu keiner Zeit Anlass, aufgrund möglicher Unterschiede von Alter und Lebenserfahrung die Last des Anderen geringer oder größer einzuschätzen. Jeder ging den Weg auf seine Weise und das war richtig so. Dieser respektvolle Umgang unter Pilgern wurde mir im Gespräch mit Keith wieder einmal sehr bewusst. Die paradiesische Umgebung tat ihr übriges, dass sich diese Stunden sehr in mein Gedächtnis einprägten.
Im Zickzack führte uns ein schmales Kopfsteinpflaster in ein Dorf bis zu einer Kapelle, neben der ein kleiner Laden Getränke und Knabberkram für erschöpfte Pilger anbot. Das war aber noch gar nicht das Beste! Als wir eintrafen, wurden wir mit großem Hallo von einer Gruppe Pilgerfreunden begrüßt – darunter viele, die ich in den vergangenen Tagen kennengelernt, dann aber aus den Augen verloren hatte: Aus Rates die ältere Dame mit ihrem noch immer verbundenen Fuß, die polnische Familie und ihre beiden Landsleute, mit denen ich gestern Ponte de Lima erreicht hatte und viele weitere. Ich war wirklich dankbar für dieses unverhoffte, fröhliche Beisammensein und gab daher ein paar Bier aus. So saßen wir entspannt auf Plastikstühlen unter einem großen Baum, schwatzten und schauten in das vor uns liegende Tal. Keith erzählte mir von seiner Zeit beim britischen Militär und der Stationierung in Deutschland während des Kalten Krieges. Da fragte ich ihm natürlich Löcher in den Bauch und wollte alles darüber wissen! Wirklich: Wie glücklich wir sein müssen, dass dieser ganze Scheiß der Geschichte angehört und Polen, Briten und (Ost-)Deutsche hier in Portugal zusammen ein Bier trinken und sich gemeinsam auf den Weg nach Santiago machen können!
Bevor wir jedoch wieder aufbrachen, nutzten wir nach einem kurzen Besuch der liebevoll gepflegten Kapelle ...
... die günstige Gelegenheit und schickten ein paar Nachrichten an Familie & Freunde, da es hier freies Internet gab. Wieder einmal zeigte sich: Selbst im Tante-Emma-Laden des abgelegendsten Dorfes, dass man sich vorstellen kann, gab es kostenloses WLAN mit einer ordentlichen Geschwindigkeit. Da können wir uns in Deutschland wirklich eine Scheibe abschneiden. Jedenfalls warf ich kurz einen Blick auf meine Nachrichten und las, dass Andrea und Concetta auch planten, diesen Nachmittag in Rubiaes einzutreffen. Klasse! Das hob meine Stimmung noch zusätzlich und wir verabredeten ein gemeinsames Abendbrot in einem Restaurant in der Nähe der dortigen Herberge. Offenbar hatten sie die Küstenroute früher als geplant verlassen und waren nun wieder auf dem zentralen Weg. Hey – da konnten wir die nächsten Etappen ja sogar zusammen laufen. Das wurde ja immer besser! Zur Feier des Tages bestellte ich weitere zwei Bier, nippte an meinem und drückte Keith die andere Flasche in die Hand.
„Das Nächste geht aber auf mich!“, sagte er lachend. Um einen ohnehin schon perfekten Moment noch perfekter zu machen, kam eine mauzende, floh-freie Katze um die Ecke und holte noch schnell eine Portion Streicheleinheiten ab.
Nach und nach machten sich unsere Freunde wieder auf den Weg und auch für uns wurde es langsam Zeit, aufzubrechen. Zusammen mit der polnischen Familie verließen wir das Dorf und betraten einen kühlen Wald, durch den sich eine Art Schotterweg schlängelte. An einigen Stellen war er so schmal, dass wir nur hintereinander laufen konnten.Viele Menschen hatten über die Jahre hier ihre Gedenksteine abgelegt, wie ich es auch schon an anderer Stelle gesehen hatte – wenn auch bisher nicht in dieser Zahl. Da hielt unser polnischer Freund an, zog einen kleinen Stein aus seiner Hosentasche und legte ihn dazu. Für ein paar Sekunden sah er nachdenklich darauf, bewegte stumm die Lippen wie im Gebet und ging dann weiter, ohne sich erneut umzublicken. Das musste es sein: Er hatte einen Stein aus seiner Heimat als Sinnbild für etwas, das sein Herz beschwerte, mitgenommen und nun an einem Ort abgelegt der ihm würdig erschien, um sich davon zu trennen. Tatsächlich wirkte er irgendwie erleichtert. Ich wollte ihn nicht fragen, woran er in diesem Moment dachte – wohlmöglich war es ein unangenehmes Thema für ihn. Also schoss ich im Vorbeigehen wenigstens ein paar Bilder und beeilte mich, wieder zur Gruppe aufzuschließen.
Keith war so gnädig, sich meinem Schneckentempo anzupassen, sodass wir nach kurzer Zeit wieder alleine unterwegs waren. Bei ihrem Tempo würden die Anderen vielleicht schon in einer guten Stunde da sein. Aber eigentlich hatten wir es ja nicht eilig und waren nach kurzer Zeit schon so vertieft in unser Gespräch, dass wir gerade noch rechtzeitig den gelben Pfeil am Rande des Weges sahen, der seltsamerweise schräg links nach oben auf den Berg zeigte. Moment mal – da sollten wir hoch? Bange hoben wir den Kopf nach oben und versuchten, die Länge dieses Wegabschnitts abzuschätzen. Ein von dicken Wurzeln durchzogener und von Geröll bedeckter Trampelpfad führte steil auf einen Berg herauf, dessen Gipfel von hier aus jedoch nicht zu sehen war. Dies musste also die krasse Steigung sein, kurz vor dem Dorf Rubiaes, die ich schon auf meiner Karte erspäht und mit Stirnrunzeln zur Kenntnis genommen hatte.
„Keith ... da komme ich mit meinem Trolley nicht rauf. Das klappt niemals!“ Mutlos schaute ich auf meinen rollenden Rucksack herab, denn die Sorge war nicht ganz unberechtigt: Schon beim ersten Schritt würde er sofort umkippen, ich vielleicht das Gleichgewicht verlieren und wie ein nasser Sack gegen den nächstbesten Baum prallen. Auf der anderen Seite hatte ich auch keine Lust wieder alle Gurte loszumachen, um den Rucksack einfach aufzusetzen. Da kam mir DIE Idee: Der breite Waldweg, auf dem wir gerade noch standen, schlängelte sich nach oben um den Berg herum und müsste ja irgendwann auf der anderen Seite wieder herunter führen – direkt nach Rubiaes. Das würde zwar einen ordentlichen Umweg bedeuten und sicherlich ein Weilchen dauern, jedoch bestimmt weniger Kraxelarbeit mit sich bringen. Keith stimmte mir zu; wir verabschiedeten uns also an dieser Stelle und wollten uns an diesem Abend wieder in einer Bar oder einem Restaurant mit den Anderen treffen. Bevor wir uns trennten, reichte er mir aber noch seine Trekkinghandschuhe:
„Vielleicht wirst du sie noch brauchen, nimm‘ sie lieber mit. Du kannst sie mir heute Abend ja wieder geben.“ Ich bedankte mich und steckte sie ein. Zuletzt sagte er mir noch, ich sollte bitte vorsichtig sein. Aber was könnte auf einem Waldweg schon passieren?
Er machte sich an den steilen Aufstieg und ich rollte geradewegs weiter, langsam den Berg hinauf. Dabei war ich mir völlig sicher, dass ich auch heute eine Alternativroute suchen, finden und ohne Probleme bestreiten könnte.
Der Anfang war wie aus einem Bilderbuch: Die grauen Wolken verzogen sich ein wenig, die Sonne brach durch und wärmte mir den Rücken, während der Weg nun wieder ein wenig nach unten führte und einen herrlichen Blick auf die dahinter liegende Senke ermöglichte. Bis auf das Zwitschern einiger Vögel war es komplett still um mich herum, nur das Geräusch des Sandes unter meinen Schuhen und der Rollen des PEREGRINO 3000 hinter mir war zu hören. Ich fühlte mich fast wie ein Eindringling in dieser friedlichen und ruhigen Umgebung und blieb für ein paar Minuten stehen – alles schien einfach so perfekt zu sein, dass es mich regelrecht überwältigte.
Der vorläufige positive Höhepunkt des Tages verbarg sich hinter der nächsten Kurve: Als ich mich aufraffte und weiter ging, hörte ich in der Ferne ein gleichmäßiges Plätschern. Hinter einer schmalen Steinbrücke erblickte ich einen kleinen Wasserfall, der gemächlich ein Becken füllte und von dort aus unter der Brücke durch und ins Tal floss. Ich kann nur sagen, dass es in diesem Moment nichts in der Welt gegeben hätte, was diese Szene noch zusätzlich hätte abrunden können. Also ging ich nach links auf das Becken zu und setzte mich auf einen Stein am Fuße des Wasserfalls. Wie lange ich letztendlich dort gesessen hatte, weiß ich nicht mehr genau. Vielleicht eine halbe Stunde? Mir ging so viel auf einmal durch den Kopf, insbesondere das verflixte letzte Jahr mit all den schweren Prüfungen. Auch wenn ich nicht erklären kann, warum, war ich an diesem Ort und in jener Stunde zum ersten Mal in der Lage, mich wirklich davon zu verabschieden und meinen Frieden damit zu finden. Das war sehr schön und traurig zugleich und auch so intensiv, dass ich meinen ohnehin schon dramatisch niedrigen Wasserhaushalt durch Verschütten von Tränenflüssigkeit zusätzlich reduzieren musste. Aber das war ok und ich nahm diesen Moment als ganz besonderes Geschenk entgegen, auch wenn ich nur schwer erklären kann, was es für mich bedeutete.
Bevor ich aber richtig zur Besinnung kommen konnte, zerriss dass jähe Aufkreischen eines Zweitaktmotors die friedliche Stille: In einem Affenzahn raste ein vermummter Armleuchter auf einem grünen Quad um die Ecke, bretterte über die kleine Brücke und verschwand wie der Blitz kurz darauf hinter der nächsten Biegung, nur Staub- und Abgaswolken hinter sich lassend. So schnell der Spuk begonnen hatte, so schnell war er auch wieder verschwunden. Welche verrückten Dinge würde dieser Weg wohl noch für mich bereit halten, um mich unvermittelt wachzurütteln? Naja, wir werden sehen. Ich nahm es als Zeichen, mich nun wieder zu erheben und der Schotterpiste in Richtung meines Ziel zu folgen.
Neben der Brücke ging es ein paar Treppenstufen hinab zu einer kleinen Kirche, die leider verschlossen war und scheinbar von aller Welt vergessen hier mitten im Wald stand. Irgendwie unheimlich! Daneben machte der Hauptweg nun einen leichten Bogen und führte langsam bergauf. Also, los geht‘s! Der Anblick war wirklich nicht von schlechten Eltern – wieder einmal –, sodass ich zunächst gar nicht wusste, was ich zuerst fotografieren sollte. Ich entschied mich aber dazu, meine Kamera nach ein paar Schnappschüssen vorerst wieder in die Tasche zu stecken.
Vorbei ging es immer der Nase nach an uralten steinernen Kreuzen und Mauerresten – ...
... den Berg hinauf, bis ich wieder eine gewisse Höhe erreicht hatte, um in das dahinter liegende Tag zu schauen. Dann plötzlich teilte sich der Weg: Geradeaus und erneut nach unten, oder nach links und damit noch steiler den Berg hinauf. Mit müden Augen illerte ich auf den Kompass, drehte mich ein paar Mal hin und her, überlegte und lief dann geradeaus weiter. Ja, in dieser Richtung müsste Rubiaes eigentlich liegen, oder? Da ich den regulären Weg ja verlassen hatte, konnte ich mich nun nicht mehr auf gelbe Pfeile oder andere Pilger verlassen. Nun also das Ganze also wieder runter, na prima. Weißt du was, sagte ich mir, jetzt musst du mal wieder deine Stimmung anheben. Komm doch mal auf andere Gedanken! Also fusselte ich meinen mp3-Player hervor und entschied mich für den Mentalen Notfallplan Nr. 3: Die Tonspur eines Bud Spencer & Terence Hill – Films! Grinsens lief ich durch den dichten Nadelwald, nun bereits wieder am Fuße des Berges und bemerkte bald, dass ich – vorsichtig formuliert – nicht mehr so wirklich in die richtige Richtung ging. Verdammt nochmal. So schnell waren gute Laune und die Aussicht auf baldige Stärkung in einem nahen Restaurant schon wieder vorbei. Ich konnte kein Ende des Weges erkennen, kein Haus oder eine feste Straße, zudem war es nach wie vor totenstill (vom aufgeregten Geschnatter einiger Vögel mal abgesehen). Wo auch immer ich war: Nach Rubiaes ging es hier sicher nicht! Also blieb ich stehen, fluchte laut, drehte mich herum und lief den ganzen Weg zurück und wieder den Berg hinauf, bis ich erneut an der Weggabelung angelangt war, tief durchatmete und diesmal nach rechts abbog. Mit der Zeit wurde ich immer langsamer und zog immer weitere Schleifen auf dem Weg, bis ich im Wald rechts neben mir etwas sehr eigenartiges sah, was meine Aufmerksamkeit erregte: Komische weiße Taschen, an fast jeden Baum genagelt, gefüllt mit glibbrig-schleimigen Glibberschleim! Achso, dsa war wohl quasi eine Harzfarm! Die Bäume wurden angeschnitten, leere Tüten darunter angebracht und nach einem Weilchen vom Harzfarmer vermutlich wieder geleert.
In einer der Tüten steckte eine tote Schlange; sie hatte vermutlich ein gemütliches Plätzchen zum Einrollen gesucht und war dabei in der glibbrigen Harztüte stecken geblieben. Kein schöner Tod. Ich schüttelte mich und lief schnell weiter! Je weiter ich ging, desto mehr der weißen Tüten tauchten in meinem Sichtfeld auf. Irgendwo ganz weit vor mir, mitten im Wald auf der Vorderseite des dahinter liegenden Berges musste der Jakobsweg verlaufen und dann in östlicher Richtung auf das gesuchte Dörfchen treffen. In Gedanken sah ich mich bereits mit Concetta, Andrea und Keith fröhlich am Tisch sitzen und Geschichten austauschen, als der Weg plötzlich scharf nach rechts abbog und … in eine völlig andere Richtung weiter führte. Der Blick auf meine Karte war überflüssig – diese Gegend war darin ja gar nicht eingezeichnet. Was wäre denn, wenn ich auf diesem Wege nur in die nächste Harzfarm, nicht aber auf die andere Seite des Berges gelangen würde? Laut meinem Kompass müsste ich weiter geradeaus, quasi direkt in den Wald hinein. Aber ich konnte doch nicht einfach … Moment mal, da führte ja tatsächlich ein kleiner Pfad vom Weg ab zwischen die Bäume. Könnte das eine Abkürzung sein? Ohne lange Wurzeln zu schlagen, beschloss ich, einen Blick zu riskieren. Recht schnell fand ich dabei heraus, dass dies vermutlich nur eine Art Nebenweg zu einer weiteren Harzfarm war, die tief in den Wald reichte. Hektisch und bereits am Ende meiner Kräfte zerrte ich an meinem PEREGRINO 3000 und wusste nicht genau, was ich nun sollte. Spätestens ab diesem Punkt wurde ich etwas panisch: Diesen Waldweg konnte ich nicht nehmen und ich hatte keinen Anhaltspunkt, ob der andere in die richtige Richtung führte. Komplett zurücklaufen würde sicher eine gute Stunde dauern. Oh, wieso hatte ich den eingezeichneten Weg nur verlassen? Am Wasserfall vor einer Stunde war ich noch so befreit und glücklich, nun fühlte ich mich hier mitten im Nichts beinahe völlig verloren. Die Sonne hatte sich mittlerweile verzogen, dunkle Wolken hingen am Himmel und es dauerte nicht lange, bis leichter Nieselregen einsetzte. Ich hatte mich entschieden, ich würde wieder auf den breiten Weg gehen und versuchen, auf die andere Seite des Berges gelangen. Wie ich das schaffen sollte, wusste ich nicht. Ich hatte einen riesigen Fehler gemacht und mich in diese Lage gebracht, aber nun müsste ich einen Weg hier raus finden! Bevor ich wieder zurück ging, machte ich noch ein Bild von einigen uralten, moosbewachsenen Mauerresten oder den Überbleibseln eines Hauses, dass hier im Niemandsland vor Ewigkeiten mal gestanden haben muss.
Doch mein archäologisches Interesse hielt sich in Grenzen, ich musste zurück. Links von mir ging es steil bergab und ich merkte zwischen all dem Gestrüpp gar nicht, wie nahe ich bereits an der Kante stand. Wieviele Meter es dahinter nach unten ging, war nicht genau auszumachen. Als ich einen letzten Blick in den hinter mir liegenden Wald warf, hörte ich, wie plötzlich leise unter meinen Füßen etwas knirschte. Was war denn nun los? Ich konnte das Geräusch gar nicht einordnen und merkte nicht, dass ich direkt auf einer Art Felsvorsprung stand, der sich ganz langsam unter meinem Gewicht absenkte. Bevor ich verstand, was gerade geschah und in welcher Gefahr ich schwebte, gab der Stein nach und rutschte aus dem Erdboden. Still wie ein betäubter Baumpilz fiel ich von der Kante und segelte bergab, meinen rollenden Rucksack immer noch fest in der Hand.