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Ich rollte ich mich auf die andere Seite, stieß mit meinem Kopf gegen das Bettgestell und öffnete brummend vorsichtig ein Auge. Man! Draußen war es ja schon total hell. Wie lange hatte ich eigentlich geschlafen? Ich sah auf die Uhr: Es war kurz vor neun! Oh. Scheinbar lag ich bereits über elf Stunden wie ein Scheintoter hier dröge rum, während sämtliche anderen Pilger wohl schon seit Ewigkeiten unterwegs waren. Ich drücke euch die Daumen, dachte ich, denn es regnete gerade in Strömen. Jetzt könnte ich genauso gut noch fünf Minuten liegen bleiben! Als ich mich wieder ins Bett fallen ließ und von dort aus dem Fenster illerte, lauschte ich eine Weile dem prasselnden Geräusch der Regentropfen auf dem Fensterbrett und fragte mich, ob mein löchriger Poncho mir bei diesem Wetter überhaupt etwas nützen würde. Ich sollte mir besser einen Schirm kaufen. Oder mit dem Zug fahren? Ach was! Ich müsste nur meinen Schnupftabakbeutel in eine Tüte einwickeln, damit … ich wagte nicht, den Gedanken weiter zu denken. Der Tabak durfte unter keinen Umständen nass werden! Entschlossen machte ich mich bereit zum Aufbruch bereit, stopfte meine Sachen ungeordnet zurück in meinen Rucksack und ging in den Frühstückssaal. Die Erinnerung an das gestrige Horroressen, welches meinen Magen übrigens nur äußerst widerwillig aufgenommen hatte, geisterte mir immer noch im Kopf herum. Doch die gelangweilte Servicebombe in Gestalt des grauen Kellners war nirgends zu sehen. Ich futterte also ein paar Brötchen, etwas Obst und schüttete eine Tasse bittere braune Brühe hinter (sollte wohl so etwas wie Kaffee sein). Mit Erleichterung stellte ich fest, dass während meines Festmahls der Regen langsam aufhörte und die ersten blauen Flecken am Himmel zu sehen waren. Nun gab es für mich kein Halten mehr an diesem abgerockten Ort der Langeweile! Ich schulterte meinen Kram, flanschte der Putzfrau, die sonderbarerweise gleichzeitig auch Rezeptionistin zu sein schien, meinen Zimmerschlüssel entgegen und trat auf die Straße. Frische Luft! Was für ein herrlicher Morgen, ähm, Mittag. Es stimmte, was die Leute über das Wetter in Galizien sagten: Am besten hilft gegen den Regen, zu warten, bis er wieder aufhört.
Irgendwie so ähnlich wie am Tag zuvor ging es zuerst durch eine wunderschöne Altstadt …
... und danach in einen ziemlich schäbigen Vorort. Was für ein Kontrast. Man! Da hatten die Stadtplaner ja wirklich ein paar ordentliche Betonwürfel in die Umgebung gehustet. Ein freundliches Bäumchen hier und da hätte vielleicht nicht geschadet. Ich muss auch nicht noch einmal erwähnen, dass es auf Dauer ausgesprochen unangenehm ist, auf Asphalt zu laufen? Bald pochten meine Füße schmerzhaft und ich fing an, auf meinem linken Bein zu humpeln. Von hinten betrachtet sah ich sicher aus wie ein alter Mann, der erstaunlich langsam einen ziemlich schweren Rucksack die Straße entlang trägt. Oh bitte, lass‘ mich keine Blase bekommen! Ich wollte schnell von dieser Straße weg und am liebsten auf dem Waldboden laufen, doch ich fand einfach keine gelben Pfeile mehr. Wohin jetzt? Ich lief mehrmals im Kreis, kam dann in eine Sackgasse und stand 15 Minuten später wieder an genau der gleichen Kreuzung. So ein Mist! Ich kramte also meinen Kompass hervor und ging einfach stupide in Richtung Norden. Santiago war doch irgendwo im Norden, oder? Was sollte also schief gehen. Bald kam ich an eine breite Straße, die scheinbar aus der Stadt heraus führte. Dort sah ich zum Glück wieder einen gelben Pfeil in Form einer kleinen lackierten Wandkachel. Jippie! Wahrscheinlich war ich schon ein paar Mal daran vorbei gelaufen und hatte sie einfach nicht gesehen. Hätten die das Ding nicht etwas größer machen können? Ich lief jedenfalls einmal quer über die Straße und dann nach rechts, leicht bergab am Rande eines Feldes. Kurz nachdem ich unter einem wunderschönen Strommast hindurch gegangen war, konnte ich ringsum kein Zeichen von Zivilisation mehr erkennen. Um mich herum war alles grün, über mir leuchtete der nunmehr strahlend blaue Himmel und wahrscheinlich hatte ich in diesem Moment mehr oder weniger genau das gleiche Bild vor Augen, wie schon die Pilger vor über tausend Jahren.
Ich kam mir tatsächlich ein wenig verloren vor und da wieder einmal nicht gerade früh aufgestanden und ziemlich träge unterwegs war, hatte ich keine Begleiter an meiner Seite. So konnte ich in aller Ruhe und der Natur um mich herum lauschen. Was denkt man in so einem Moment? Müsste das nicht die perfekte Umgebung sein, von der man später einmal schwärmt, in der tiefgründige Erweckungserlebnisse auf einen warten und man die Magie des Jakobsweges spürt? Davon spürte ich zunächst jedoch rein gar nichts. Dass ich mich an einem ganz besonderen, wunderschönen Ort befand, war mir schon bewusst. Aber eigentlich waren es wieder die ganz banalen Fragen, die mir durch den Kopf kreisten, die irgendwie weder „besonders“ oder irgendwie magisch waren: Wo kann ich meine Wasserflasche auffüllen, warum piekt es in meinem rechten Knie, wo ist mein Schnupfbeutel, wann werde ich wohl ankommen? Während ich jede Frage entnervt mit einem „Weiß‘ ich doch nicht, man“ versah, kam mir in den Kopf, dass gerade diese Fragen hier ja eigentlich alles andere als banal sind. Zuhause würde ich mir darüber kaum Gedanken machen: Wo gibt’s Wasser? Blöde Frage, aus dem Hahn oder der Sprudelflasche – oder noch besser, trink ‘ne Limo. Aber hier, auf dem Jakobsweg … das wurde schnell sehr essentiell und da musste ich noch nicht einmal an meine Katastrophe vor einigen Tagen denken. Irgendwie wird man sich an einem solchen Ort der Wichtigkeit von Dingen bewusst, denen man zu Hause kaum große Bedeutung zumisst. Wie weit weg plötzlich zum Beispiel die Produktion meines Soloalbums schien, mit all den vielen Dingen, die noch zu erledigen waren und die zu Hause auf mich warteten. Jetzt dachte ich wirklich nur noch an etwas zu trinken, Unterkunft und was ich tun würde, wenn mein kribbelndes Knie mich hier mitten im Nichts im Stich lassen sollte. Doch trotz schmerzender Füße war die schlechte Laune bald wieder weg, denn mir fiel ein: Morgen würde ich die junge Pilgerin wieder sehen, mit der ich weniger Tage zuvor zusammen den Fluss Minho zwischen Valenca und Tui überquert hatte. Darauf freute ich mich schon sehr. Vielleicht hatte ihr unsere bisherige gemeinsame Zeit auch so gut gefallen wie mir? Bei diesem Gedanken lief ich gleich wenig schneller und achtete gar nicht wirklich auf den zermatschten Skorpion, der rechts am Wegesrand lag und vor sich hinweste. Erst später fiel mir das bei der Betrachtung der Bilder von diesem Tag wieder ein und ich wunderte mich ein wenig darüber, dass diese garstigen Viecher in Galizien lebten.
Der Weg führte aus dem Wald heraus und am Rande der prähistorischen Autobahn AP 9 entlang in ein Tal. Hier war es eigentlich ziemlich schön, vom Straßenlärm mal abgesehen:
Es dauerte nicht lange und ein Schild lotste müde und hungrige Pilger zu einer kleinen Unterkunft mit Café, nur 100 oder 150 Meter entfernt. Diesen kleinen Umweg nahm ich gerne in Kauf, denn ich hatte langsam wirklich großen Hunger. Komplett verschwitzt stapfte ich auf die Veranda vor dem Haus und ließ mich auf einen Stuhl plumpsen, orderte einen alkoholfreien Hopfensaft und dazu einen Sandwich mit Schinken und Käse. So ließ ich es mir gut gehen, kam langsam wieder zu Kräften und versuchte, nicht die beiden Hunde im benachbarten Grundstück zu beachten, die gerade … ach egal.
Jedenfalls kamen bald darauf zwei ältere Pilgerinnen, die mich gar nicht beachteten und stattdessen ganz ausgelassen über ihre Freundin herzogen, die wohl schon weiter gelaufen war. Sie setzten sich an einen Nachbartisch, bestellten Wasser und lästerten, was das Zeug hielt: „Man, ihre Haare, ihre Stimme, ihre Art … “ Bla bla bla. Ich ballte das Gesicht zur Faust und machte mich wieder auf die Socken. Die beiden Tratschtanten hinter mir gelassen, betrat ich wieder den Hauptweg, der zwischen Autobahn und einem Feld bergab führte.
Das Gefälle nutzten einige Fahrradpilger aus, um auf dieser Strecke so richtig Fahrt aufnahmen und wie Kondensstreifen an mir vorbei zu sausen. Hundert Meter weiter ging es jedoch wieder sehr steil bergauf, sodass sie immer langsamer wurden und schließlich absteigen mussten. Betont entspannt lief ich an ihnen vorbei, hehe! Ab hier ging es generell sehr ruhig und gemütlich voran, jedoch insgesamt auch auf eher unspektakuläre Weise. Bis ich um eine Ecke bog und einen Mann auf einem Schimmel sitzen sah, der offenbar gerade das ein oder andere Kunststück mit seinem Pferd trainierte. Ein Pferde-Dressur-Oberexperte in Aktion! Ich stellte mich etwas abseits und sah den beiden eine Weile zu, hob dann meine Hand, in der ich meine Kamera hielt und schaute ihn freundlich-fragend an. Ein Foto von den beiden wäre wirklich die Krönung meiner Fotosammlung. Er lächelte mich freundlich an und nickte, lenkte das Pferd ein wenig in meine Richtung und wartete. Nach ein paar Fotos, für die ich mich sehr bedankte, wuselten er und sein tierischer Freund wieder fröhlich umher. Ich mag dieses Bild wirklich sehr:
Kurz darauf hatte ich den sichtbaren Beweis dafür, dass ich von meinem Ziel nun nicht mehr allzu weit entfernt war. Hinter einer Kreuzung sah ich den Wegweiser zur Landstraße nach Santiago – für mich in diesem Moment das schönste Schild überhaupt:
Für zusätzliche Abwechslung sorgten einige neugierige Hunde, die, unweit einer sehr schönen kleinen Kapelle, ihre Köpfe wie in einem Comic durch eine Mauer steckten und mich doof anguckten:
Ich lief auf einem schmalen Pfad am Rande eines Hügels entlang, der rechts steil bergab fiel und in einen wilden Fluss mündete. Das Rauschen war bis hier oben ganz deutlich zu hören, was mich etwas an meinen Spezialausflug in Rubiaes erinnerte. Vor allem fühlte ich mich in den geheimnisvollen Wald Rates' zurück versetzt. Wie lange war das jetzt eigentlich her – eine Woche vielleicht? Schon irre: Wieder fühlte es sich so an, als wären bereits Monate vergangen. Wie fundamental eine so kurze Zeit einen schon prägen kann, während die Wochen und Monate im Alltagsblues ansonsten eher schnell vorüber ziehen. Wieder spürte ich einen Anflug von Dankbarkeit und freute mich tierisch, diese Reise angetreten zu haben – auch wenn ich noch gar nicht genau sagen konnte, inwieweit sie mich eigentlich geprägt hat. Selbst jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, kann ich das nicht so genau sagen. Aber wie dem auch sei, hinter einer Kurve sah ich plötzlich eine Pilgerin, die gedankenverloren am Rande des Weges stand und einen moosbewachsenen Baum anstarrte. Sie beachtete mich kaum und wollte scheinbar nicht gestört werden. Meditierte sie vielleicht? Aha, spontane Baummeditation! Möglicherweise war auch eine bedrohliche Substanz involviert, sie sah tatsächlich ein wenig merkwürdig aus. Ich schlich mich vorbei und setzte meinen Weg fort. Es ging munter rauf und runter und mir gefiel dieser Wald sehr. Im Ernst - wie schön das hier war! An der ein oder anderen Stelle floss eine kleine Quelle aus dem Gestein links von mir: Dort hatte man Rinnen in den Boden gelassen, deren Seiten über die Jahre mit Moos bewachsen und dementsprechend glitschig waren. Es musste daher vorsichtig darüber gehüpft werden! An einigen Stellen machte der Wald einigen richtig verwunschenen Eindruck, wie in alten russischen Märchenfilmen:
Bei jedem Hupf jammerten meine Knie und es ging ununterbrochen kreuz und quer durch die Botanik, sodass ich einigermaßen erleichtert war, recht bald den Wald verlassen zu haben und durch ein verschlafenes Dorf zu schlendern. Hier erblickte ich eine ziemlich beeindruckende Kirche mit einem angrenzenden Friedhof und entschloss mich zu einer kleinen Besichtigung. Die war jedoch recht schnell wieder vorbei, da sämtliche Türen verschlossen waren.
Enttäuscht lief ich also wieder auf die Straße, ging um eine Ecke und sah schon von Weitem ein Café, in dem ich meine Vorräte wieder auffüllen konnte. Davor saßen, im Schatten einiger Sonnenschirme, ein Grüppchen munterer und laut schwatzender Schwaben und …Mogli! Die verwildert aussehende Pilgerin, die ich kurz vor Pontevedra im beschaulichen Dörfchen Arcade gesehen hatte. Sie trug wieder (oder immer noch) ihr verwittertes und viel zu großes Hemdchen, dass eher wie ein alter Lappen mit drei Löchern für Kopf & Arme aussah, sowie ihre Pants und Jesuslatschen. Diverse Stellen wurden durch ihre Kleidung nur andeutungsweise verdeckt, sodass bei jeder Bewegung ihre … aber egal, das ging mich ja nichts an. Sie schien mich auch gleich zu erkennen und lud mich ein, ihr und ihrer Freundin Gesellschaft zu leisten. Wir saßen für eine gute halbe Stunde dort, aßen Kuchen und würgten eiskalte Cola hinter, bevor wir uns zusammen auf den Weg machten. Mogli sprach 99% der Zeit und verblüffte uns mit ihren abgefahrenen Lebensplänen, die sie uns in perfektem Oxford-Englisch mitteilte. Nach dem Camino erstmal für ein halbes Jahr nach Indien und dann Südafrika, wo sie in aller Ruhe an einem Buch schreiben wolle. Worüber sie ein Buch schreiben wolle, fragte ich sie und bereute meine Frage eine Sekunde später wieder. Sie setzte an zu einem beeindruckendem Vortrag über ihre Vorstellungen von Richtig und Falsch, von Menschen, die immer alles planen müssten und denen die Spontanität fehle. Unter dem Strich wusste sie also noch nicht so genau, worüber sie eigentlich schreiben wollte. Irgendwo in diesem Redeschwall, während dem sie sonst kaum atmete, ließ sie einen sehr selbstbewusst vorgetragenen ohrenbetäubenden Rülpser hören, der von den Bäumen wiederhallte und einige Vögel aufschreckte. Ich konnte mir nicht helfen und musste laut losprusten. Ihre Begleiterin machte ein betretenes Gesicht, Mogli selbst schien nichts zu merken. Ihren Rülpser nahm ich als Signal, mich langsam wieder zurück zu ziehen und legte aus taktischen Gründen daher eine im Grunde unnötige Extra-Pause ein. Hinter einer Kurve erwartete uns eine kleine Rastecke … sagt man das so? Ich meine einen kleinen umzäunten Bereich, in dem einige hölzerne Bänke und Tische standen. Eine Ecke zum Rasten also! Dort warf ich mich hin, ließ die beiden weiter ziehen und nahm eine Notoperation an den Schnüren meines Rucksacks vor, um es damit überhaupt nach Santiago schaffen zu können. Als ich alle verbliebenen meine Kekse aufgefuttert und mich wieder auf den Weg gemacht hatte, sah (und roch) ich von weitem den Qualm, der grün/gelb aus einem großen Schornstein des uralten Kraftwerks vor Padron waberte.
Warte mal – von Padron? Mensch, dann wäre ich ja schon bald da! Ich freute mich und lief guten Mutes weiter, auch wenn meine Füße sich langsam anfühlten wie Matsch. In einer Senke und direkt in Windrichtung, wo durch die besondere Lage wahrscheinlich die meiste Zeit des Jahres ekeliger Qualm herab sank, hatten schlaue Menschen ihre Häuser errichtet und bauten Gemüse in den Vorgärten an. Mmh, das rauchige Aroma gab es hier sogar umsonst! Der Vorort von Padron war nicht sonderlich erwähnenswert, nur insoweit, als dass den meisten Stellen die Häuser ziemlich weit auseinander standen und mir die Nachmittagssonne sehr intensiv von hinten gegen den Schädel wammste. Ich muss gestehen, dass mir in diesem Moment ein wenig schwindelig war und ich Kopfschmerzen bekam, doch da ich nun schon so nah war, achtete ich nicht sonderlich darauf. Ich überquerte einen breiten Fluss und warf einen letzten wehmütigen Blick auf jenes Kraftwerk, dass, einem sonderbaren Gruße gleich, eine besonders fette gelbe Wolke in den Himmel blies.
Eine geteerte Straße führte nach ein paar Biegungen ein Weilchen direkt am Fluss entlang, der, wie ich meinem Pilgerführer entnahm, direkt durch die Altstadt von Padron floss. Eigentlich konnten es ja nur noch ein paar hundert Meter sein … Mittlerweile humpelte ich so langsam, dass mich ein Großmütterchen mit Krückstock überholte, die gerade ihren wuseligen Hund Gassi führte. Beide schauten mich neugierig an und waren schon bald verschwunden. Aber egal! Hier gab es keine Punkte auf Haltung oder Schönheit, aufs Ankommen kam es an. Wenig später wankte ich ungläubig in die uralte Altstadt, ich hatte es geschafft!
Ich war wahnsinnig stolz auf mich, jawohl. Auf dem langgestreckten Marktplatz vor der berühmten Kirche, in der eine bedeutende Reliquie aufbewahrt wird, setzte ich mich auf eine Steinbank und atmete tief die frische Luft ein. Auf dem Boden waren überall zertrampelte Blumen, Bonbonpapier und Konfettischnipsel zu sehen; offenbar fand kurz zuvor ein Wochenmarkt oder irgendein Fest statt. Oder das Empfangskomitee hatte mich ganz knapp verpasst, aber das war schon ok. Ich nahm eine Prise zur Stärkung und setzte mich in das erstbeste Café, dass ich finden konnte. Das erwies sich gerade als Glücksfall, denn die gutgelaunte Kellnerin sprach fließend Deutsch und vermittelte mir ein günstiges Zimmer für die Nacht, denn gebucht hatte bisher noch nichts. Morgen würde ich hier bleiben, meine Pilgerfreundin treffen und am Tag darauf mit ihr und Andrea die letzte Etappe nach Santiago laufen. Concetta war bereits ein wenig weiter gelaufen und würde vermutlich als Erste von uns das Ziel erreichen. Der Masterplan sah vor, dass wir uns in zwei Tagen in Santiago treffen, wir uns unfassbar freuen und anschließend rituell Unmengen von Wein trinken würden. Um die komplexe Ausführung dieses Plans zu ermöglichen, müssten wir jedoch verdammt früh aufstehen, da die Etappe von Padron nach Santiago weder kurz noch anspruchslos war. Aber das würden wir schon schaffen. Ich schlenderte zu meiner Unterkunft, einem kleinen Hostel in der Nähe des Marktplatzes, freute mich darüber, dass ich ganz alleine in einem Vierbett-Zimmer schlafen konnte und ließ mich wenig später seufzend ins Bett fallen.
Was war das für ein abgefahrener Tag gewesen. Als ich mich ein wenig ausgeruht hatte, wurde mir deutlich bewusst, dass ich dringend meine verranzten Sachen waschen müsste. Langsam entstieg ich meinem Bett, kramte meine Wäsche zusammen und ging in den Aufenthaltsraum, in dem bereits zwei deutsche Pilger damit beschäftigt waren, die Aufschrift einer großen Waschmaschine zu entziffern. Man musste offenbar ein paar Münzen in einen kleinen Schlitz werfen und konnte nach kurzer Zeit seine gewaschene und vorgetrocknete Wäsche entgegen nehmen. So dachten wir zumindest. Jeder warf einen Euro in den Schlitz, woraufhin die Maschine für fünf oder zehn Minuten lief und bald darauf einfach so ausging und unsere durchweichte und labbrige Wäsche gefangen hielt. Also fütterten wir sie erneut mit einigen Münzen, doch diesmal stand sie schon nach ein paar Minuten wieder still. Wie teuer sollte so ein Waschgang wohl sein?! Scheinbar hatten wir das Schild nicht richtig übersetzt. Also bargen wir unsere halb gewaschenen Sachen, spülten sie in einem Waschbecken aus und hingen sie auf ein Wäschenetz, dass an der Hauswand befestigt war und welches man von einem Balkon aus nach draußen „fahren“ konnte. Wir waren im dritten Stock und wollten uns daher nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen, doch dann: Bei dieser Übung segelte eine meiner schlecht befestigten Socken in den Abgrund. Ich schrie entsetzt:
„Socke fort! Halt, bleib hier!“ Doch sie ward nie wieder gesehen. Nun hatte ich bloß noch vier Socken, von denen auch nur zwei zueinander passten. Doch natürlich ließ ich mir von einem solch kleinen Detail nicht die Stimmung vermiesen!
Ich entschloss mich zu einem ausgedehnten Stadtbummel, doch betrat schon nach kurzer Zeit die Kirche Santiago Apóstolo am Plaza Manuel Rodríguez Cobián, von der ich schon so viel gelesen hatte. Darin wird der berühmte Meilenstein aus römischer Zeit aufbewahrt, von dem die Stadt auch ihren Namen hat. Der Legende nach wurde das Boot, welches den Leichnam des Apostels Jakobus hierher transportierte, daran festgemacht. Sehr schöne, friedliche Momente erlebte ich in dieser Kirche und zündete drei Kerzen an: Für meine Familie, meine Freunde und eine für mich. Ich stellte sie vor eine Säule in der Nähe des Altars und sah zufrieden dem Kerzenlicht ein Weilchen beim Flackern zu.
Dann schnipste ich programmgemäß eine Münze auf den Meilenstein …
…, die auch prompt obenauf liegen blieb (das soll Glück bringen). Frisch getankt mit Energie verließ ich die angenehm kühle Kirche und trat auf den kleinen Platz davor. Direkt gegenüber befand sich die zentrale Pilgerherberge, die komplett voll war und es dauerte auch nicht lange, bis ich Andrea und meine deutschen Pilgerfreunde traf. Zusammen verlebten wir einen tollen, denkwürdigen Abend, während dem eindeutig zu viel Rotwein vernichtet wurde, da ich mich an seinen Ausgang nur noch schemenhaft erinnern kann. In jedem Fall landete ich irgendwann in der Nacht glücklich und mit bester Stimmung in meinem Bett und war sofort eingeschlafen.