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In der gleichen Position, in der eingeschlummert bin, wachte ich wieder auf. Wie ein Stein hatte ich geschlafen, fühlte mich ausgeruht und war wieder bereit für erschütternde Aktionen! Mit einem Hupf sprang ich auf und verschwand im Bad, freute mich erneut über den Fön, machte mich fertig und schritt nach fünf Minuten aus dem Fahrstuhl in den großen Frühstückssaal, frohen Mutes, wie in Erwartung eines Staatsbanketts! Das Festmahl war dann leider doch etwas karg und die Brötchen so hart, dass man damit jemanden hätte erschlagen können. Aber egal – Hauptsache Tee. Die meisten Gäste waren Italiener, aber ein paar Tische neben mir saß ein älteres deutsches Ehepaar. Ich wurde Zeuge eines inspirierenden Wortwechsels:
„Schatz, reichst Du mir bitte noch eine Scheibe Käse?“, fragte er vorsichtig und betont freundlich.
„Günther, Du hattest schon zwei! Na gut, aber nur, weil Freitag ist!“, gackerte sie.
„Aber… heute ist doch Mittwoch?“. Er schaute sie fragend an.
„Oh. Achso! Nein, dann doch nicht!“
„Och...“. Das Thema war beendet und er bekam keinen Käse mehr. Hätte er doch nur nicht nochmal gefragt! Nun musste er bis Freitag warten. Leider konnte ich nicht bis Freitag warten um dieses Schauspiel weiter zu betrachten, trank meinen Tee und sah aus dem Fenster. Das Wetter hatte über Nacht komplett umgeschlagen: Dichter Nebel waberte durch die Straßen, leise tröpfelten ein paar Regentropen gegen die Fensterscheiben. Während ich mich an meinem Betonbrötchen abarbeitete, was lautes Krachen zwischen meinen Zähnen verursachte, schaute ich den umherschwirrenden Passanten zu, die sich in Ponchos eingepackt oder ihre Schirme aufgespannt hatten. Das stimmte mich fröhlich, nicht aus Schadenfreude, sondern in Erwartung besten Wanderwetters! Leichter Regen, ok, aber immerhin nicht mehr diese drückende Hitze. Zumindest vorerst.
Wieder in meinem Zimmer brauchte ich eine ganze Weile, um meinen Rucksack einigermaßen ordentlich zu packen, da ich abends zuvor fast den ganzen Inhalt im Raum verteilt hatte. Ein paar Socken, die ich gestern Abend noch gewaschen habe, waren leider noch nicht ganz getrocknet. Da es draußen regnete, konnte ich sie schlecht mit ein paar Wäscheklammern an meinen Rucksack festmachen, also steckte ich sie erst mal in eine Tüte.
Ich suchte in dem Chaos nach meinem Pilgerführer und grübelte erneut die heutige Route von Povoa de Varzim nach Rates: Ich wollte so bald wie möglich vom Küstenweg wieder auf die Hauptroute, um von dort, wie ursprünglich geplant, nach Santiago zu wanken. Eigentlich muss ich mich immer in nordöstliche Richtung bewegen, dann würde ich automatisch auf den zentralen Jakobsweg stoßen.
Eines hatte ich bereits über mich gelernt: Mein Orientierungssinn war eher einfach ausgeprägt, von einigen wenigen lichten Momenten abgesehen, aber dennoch: Die grobe Richtung stimmte meistens. Bisher hatte „immer der Nase nach“ zwar nicht immer zur vollsten Zufriedenheit meiner Füße und meines Herz-Kreislaufs-Systems funktioniert, trotzdem hatte es funktioniert. Daher wollte ich weiterhin auf mein Bauchgefühl vertrauen, bereitete mich aber innerlich bereits auf die ein oder andere Querfeldein-Aktion vor. Ob ich jetzt ein paar hundert Meter nördlich oder südlich meines Ziels, der Stadt Rates, auf den Weg stoßen würde, war mir in dem Moment nicht so wichtig. Ein bisschen Abenteuer dürfte ja auch mal sein, oder? Warum man das besser doch nicht nachmachen sollte, musste ich einige Tage später schmerzhaft lernen. Zunächst jedoch, nachdem das Frühstück verfrühstückt und der Check-out ausgecheckt wurde, trat ich an diesem trüben & nassen Morgen auf die Straße und folgte der Kompassnadel in Richtung nordost. Ich war schon gespannt, was ich wohl alles spannendes sehen und erfahren würde, so abseits der ausgeschilderten Pilgerroute.
Die erste Stunde ging es durch enge Seitenstraßen, in denen offensichtlich eher selten Pilger gesehen wurden. Die handvoll Passanten, auf die ich stieß, schauten mich entweder verwundert an oder ignorierten mich. Das störte mich aber nicht besoners, sondern eher mein doofer Regenponcho: Unter ihm war man vor dem Regen geschützt, ok, aber dafür fing man an zu schwitzen wie ein Irrer! Klar, wo soll die Feuchtigkeit auch hin, unter einer zweiten Haut aus Plastik. Also zog ich das Ding abwechselnd an und wieder aus, an und wieder aus, und entschloss mich unter einem leisen Fluchen schlussendlich dazu, das Ding ein paar mal zusammen zu falten und mir über den Kopf zu hängen. Das zwar erstaunlich blöd aus, reichte aber aus gegen den leichten Regenschauer. Ich erreichte einen kleinen Kreisverkehr und sah auf dem Straßenschild den Namen einer kleinen Stadt, an der ich definitiv vorbei müsste, um mein heutiges Ziel zu erreichen. Da freute ich mich sehr, denn ich war genau richtig gelaufen, zudem verschwanden langsam die dunklen Wolken und man sah die ersten Flecken blauen Himmels. Eine große Schule stand links der Straße, doch der riesige Schulhof davor war verlassen und machte einen düsteren Eindruck. Ist heute überhaupt ein Wochentag? Achja, der arme Mann im Speisesaal vorhin sagte ja, das heute Mittwoch wäre. Ich wüsste es sonst auch nicht mehr genau.
Am Ende der Straße ging es scharf nach links, direkt in Richtung Nordost, über einen breiten, mehrspurigen Kreisverkehr und schließlich quer durch ein Industriegebiet. Hier traf ich die ersten Pilger, zwei Belgier, die wie ich in Povoa de Varzim übernachtet hatten und nun zurück auf die Hauptroute wollten. Dabei gingen sie strikt nach Plan vor, zückten an jeder Kreuzung eine große Karte, checkten alles und liefen erst dann wieder los. Ich hatte sie mittlerweile schon etwas zurück gelassen, nur mit meinem Kompass in der Hand, was etwas komisch war, da ich ja sonst stets von allen überholt wurde. Nun kam ausgerechnet ich schnell voran! Das nicht sonderlich attraktive Industriegebiet endete jäh vor einem hohen Bahndamm, unter dem ein dunkler Tunnel auf die andere Seite führte. Davor standen drei Bauarbeiter, die gerade die Wegeinfassung zu beiden Seiten des Durchgangs instand setzten; als sie mich herbeischlurfen sahen, sprangen sie an die Seite und machten mir höflich Platz. Sie waren überdurchschnittlich nett! Jeder wünschte mir eine gute Reise und es hätte mich nicht gewundert, wenn sie mich salutierend und singend verabschiedet hätten. Naja, egal. Auf der anderen Seite sah ich in einiger Entfernung einen großen Kirchturm in den Himmel ragen, umgeben von ein paar kleinen Häuschen. Bis auf eine laute, stark frequentierte Straße voller LKWs gab es hier zunächst leider nichts erwähnenswertes, denn das Tor vor der Kirche war versperrt und ein Pfarrhäuschen konnte ich nicht ausmachen. Doch direkt gegenüber gab es ein Café, in das in natürlich gleich hineinsprang!
Die Frau hinter der Theke sprach in einem breiten Südstaatenakzent (offensichtlich mochte sie Portugal mehr als Texas) und servierte mir mit Freuden einen Bleikuchen, Kaffee und Wasser. Hier nahm ich mir etwas Zeit und schaute nochmal in meinen Reiseführer: Von hier aus musste ich nun direkt nach Osten laufen, da ich leicht vom Weg abgekommen und zu weit nach Norden gegangen war. Aber das war alles nicht so wild, denn seltsamerweise fingen hier, direkt zwischen Küsten- und Hauptroute, wieder die gelben Pfeile an, denen ich nun nur noch zu folgen bräuchte. Oder sollte ich das? Beim Bezahlen schärfte mir die nette Frau ein, nicht auf die Pfeile rechter Hand des Weges zu achten, da sie Pilger absichtlich in die Irre Leiten und über einen Umweg zu einem Restaurant leiten würden. Aha! Keine schöne Sache, fast schon kackdreist, möchte ich sagen. Sie riet mir vielmehr zum Weg über die Berge, da dies der schnellste und einfachste sei. Von hier aus circa einen Kilometer nach rechts die Straße runter (oder ungefähr vier Kreuzungen), nach rechts bis zum nächsten Dorf, ab der Dorfmitte nach links und dann nur noch den Schildern nach. Schlussendlich noch an einem direkt auf dem Berg gelegenen Schießplatz vorbei und in das dahinter liegende Tal. No Problemo! Schießplatz klang zwar zunächst nicht besonders fröhlich, aber hey, was kann schon groß passieren! Die beiden belgischen Pilger kamen vorbei, grüßten kurz und machten schnell wieder los. Ich begab mich auch wieder auf die Socken, folgte dem Rat der portugiesischen Texanerin (oder texanischen Portugiesin?) und betrat nach einem Kilometer stupide geradeaus laufen eine kleine Seitenstraße, die langsam einen Berg hinauf lief.
Langsam änderte sich die Umgebung: Die tristen grauen Häuser entlang der großen Straße waren verschwunden und gepflegte Gärten vor Villen auf großzügig bemessenen Grundstücken kamen zum Vorschein, umgeben von ziemlich großen Mauern. Auch der Lärm der Straße war nicht mehr so präsent. Ab und zu hielt ich an und machte ein paar Fotos: Ein großer Friedhof, der Ausblick von hier oben auf das Dörfchen, ein Maria-Schrein...herrlich!
Einen durchgehenden Fußweg gab es jedoch nicht und zweimal fürchtete ich kurz um mein Leben, als Autos um die Kurve geschossen kamen und dicht an mir vorbei brausten. Dennoch stellte sich schon bald wieder Coolheit ein: Der Himmel war nun makellos blau, die Sonne brannte und mit jedem Schritt wurde es deutlich wärmer. Da ich relativ ausgeruht war, machte mir die Temperatur heute weniger zu schaffen und ich kam gut voran. Über einer alten Mauer ragte der Ast eines Zitronenbaumes, der massig reife Früchte trug (leider kam ich nicht heran). An einer Ecke hielt ich kurz, packte die ganzen Regenklamotten tief in den Rucksack und sah dabei wieder ein kleines Café, welches an einer kleinen Weggabelung und neben einem Platz lag. Warte mal – ist dass das Dorfzentrum? Cool, ging ja schnell! Ein historisches Bild mit den üblichen blauen Kacheln befand sich vor einer Gabelung, von wo ich in die nach links abbiegende Straße einbiegen sollte.
Doch vorher: Mittagszeit! Die Gäste in dem kleinen Café verstummten, als sie mich sahen, und schauten mich fragend an. Viele Pilger schienen hier nicht vorbei zu kommen, nicht aus diesem Dorf stammende Leute offenbar genauso wenig. Aber die junge Dame hinter der Kuchentheke schaute freundlich zu mir herüber und musterte schmunzelnd meine abgewetzten Sachen. Jaja ich weiß schon, müsste mal gebügelt werden. Gemütlich futterte ich ein Käsegerät nach dem anderen, warf noch einen Bleikuchen ein und wurde anschließend mit dem breiten Lächeln wieder verabschiedet. Ein schöner Tag! So lief ich an diesem frühen Nachmittag also die schmale Dorfstraße entlang, summte irgendwas fröhliches und nahm mir abermals Zeit für das ein oder andere Foto. Nach ein paar Biegungen konnte ich schon das Ende des Dorfes sehen, wo sich die Straße in einem tiefen, schattigen Wald den Berg herauf schlängelte. Bis jetzt stimmte alles mit der heute Vormittag erhaltenen Wegbeschreibung überein, nur einen Wegweiser konnte ich nirgendwo erkennen. Aber auch laut Kompass lief ich genau in die richtige Richtung, also gab es keinen Grund zur Sorge. Ich ließ das Dorf hinter mir und betrat entlang einiger kleiner Felder den dunklen, kühlen Wald. Hier war es sehr schön, doch leider muss ich sagen: Die Serpentinenstraße lud so manchen pubertierenden Arsch zum Rasen ein und so übte ich in Gedanken bereits den lebensrettenden Sprung über die Seitenbegrenzung zu meiner Rechten. Ab und zu tauchte ein verfallenes Tor oder der verwitterte Eingangsbereich zu einem verlassenen & überwucherten Grundstück auf, daher auch an dieser Stelle wieder ein Tipp für fleißige Häuslebauer: Freie Grundstücke für ein Eigenheim wären hier, neben dem Reisfeld hinter Rates, vielleicht noch zu finden!
Hier fiel mir ein, dass ich ja immer noch meine feuchten Socken seit Povoa de Varzim in einer Tüte im Rucksack mit mir herumtrug. Also hielt ich kurz an, kramte sie heraus und machte sie mit zwei original DDR-Wäscheklammern unten an meinem Rucksack fest. Selbstverständlich würden die halten! Es dauerte nun nicht lange und die Kurven wurden enger, die Steigungen höher und der Weg beschwerlicher. Seit dem Verlassen des Dorfes war ich komplett alleine unterwegs, von ein paar Rowdies in ihren getunten Seats mal abgesehen. Dennoch fühlte ich mich alles andere als alleine, sondern hörte Musik, sang dröhnend dazu in den Wald hinein und freute mich über das schöne Wetter.
Die Zeit verging und es dauerte irgendwann auch eine ganze Weile, bis ich mal wieder ein Auto oder ein Mofa zu Gesicht bekam – wahrscheinlich machten gerade alle Mittagsschlaf oder so. Vor mir öffnete sich die Straße zu einer Lichtung und führte von dort aus schräg nach links. Eigentlich sollte ich ja weiter der Straße folgen, aber sie führte echt eine ganze Weile nach Westen. Jetzt musste ich mich entscheiden: Entweder weiter nach links bis zur nächsten Biegung, zurück den Berg wieder herunter (auf gar keinen Fall), oder auf einem Trampelpfad direkt geradeaus.
Dampfend vom anstrengenden Aufstieg und kurz von einer Richtung in die andere schauend, entschloss ich mich nach einer Verschnaufpause für den Weg geradeaus: Auf den Berg, steil nach oben und direkt auf mein Ziel hin! Der Pfad war schön, doch die Bäume standen hier weiter auseinander und boten weniger Schutz vor der Sonne. Für ein Weilchen war wirklich nichts war zu hören außer dem Gezwitscher der Vögel, dem Knirschen des Sandes unter meinen Schuhen und meinen Gehechel. Ich erreichte fluchend und verschwitzt das Ende des Weges, der wieder auf die Teerstraße führte, prüfte den Kompass und ging nach rechts weiter. Zwischen den Bäumen konnte ich ein wenig in das nun hinter mir liegende Tag blicken und war stolz, wie weit ich heute bereits schon gelaufen war!
So besonders viel war es insgesamt zwar eigentlich noch nicht, aber nach den gestrigen Problemchen freute ich mich nun natürlich über jeden erreichten Kilometer. Links neben der Straße verlief ein Stück Zaun und ich vermutete, dass dahinter der besagte Schießplatz lag: Zu hören waren ab und zu ein paar zaghafte Schüsse und dumpfes Wummern. Üben die vielleicht Handgranaten-Werfen? Aber egal. Leider hatte ich keine Ahnung, in welche Richtung die Straße nun wohl als nächstes abbiegen würde, da sie sich tief im Wald vor mir verlief und ich eine Kurve nicht ausmachen konnte. Eigentlich müsste ich jetzt irgendwo nach links und vom Berg wieder herunter, sonst komme ich zu weit vom Ziel ab. Wer weiß, welche Windungen Straße noch nimmt. Lieber noch einmal querfeldein? Und tatsächlich: Auf der gegenüberliegenden Seite sah ich nach kurzer Zeit eine kleine Öffnung zwischen den Bäumen und einen schmalen Pfad, der sich offenbar den Berg herunter schlängelte. Die Schussgeräusche in der Nähe nahmen an Intensität zu, als ich mich an den Rand des Waldes auf den Boden setzte, an einem Schokoriegel knabberte und abwog: Tod durch Überfahren oder durch Herabstürzen vom Berghang? Nach reiflicher Überlegung wählte ich letzteres, nahm eine gute Prise Schnupf, nieste kräftig und sprang auf den Trampelpfad.
Friedlich passten sich die Gewehrsalven, welche vom nun linker Hand gelegenen Schießplatz zu mir herüber schallten, in die Naturatmosphäre ein, während ich den leicht abfallenden Weg entlang schritt. Auf einer kleinen ausgetretenen Stelle sah ich ein paar ausgebrannte Kerzen – komisch, so als ob eine okkulte Sekte hier nachts heimlich den Waldgeist angebetet hat! Oder vielleicht hat auch einfach nur jemand seinen Müll entsorgt.
Egal, ich kann mich ja auch nicht um jeden Scheiß kümmern. Jedenfalls freute ich mich, dass dieser Weg etwas abwechslungsreicher war, als die doofe Teerstraße. Zudem lief es sich auf dem Waldboden ausgesprochen gut.
Das änderte sich erst ein wenig, als der Waldweg auf eine schmale Steinstraße führte, die nun sehr steil herab führte. Als ich wie eine Bergziege den Abhang herunter stakse, höre ich durch die Bäume schwach vernehmbare Musik. Es klang ein wenig so wie Schlager, nur auf portugiesisch natürlich. Zivilisation voraus! Nur will ich da wirklich hin - Schlager? Wieder wäge ich ab: Tod nur verhungern oder durch Schlager. Ich wähle wieder die Gefahr und laufe weiter!
Zentimeterweise ging es voran und der ein oder andere Stein gab nach und rollte geräuschvoll nach unten. Mann, hier kommt aber kein Postbote mehr vorbei, wenn ich auf dieser Strecke falle und mir ein Bein breche, denke ich mir noch. Ich freue mich wie ein Wilder, als ich nun durch die Bäume die Ausläufer einer kleinen Stadt sehen kann – das muss Rates sein! Ich zwinge mich wieder zur Konzentration, laufe im zick-zack weiter nach unten und erreichte nach einer Viertelstunde heil, aber mit schmerzenden Knien, ein Kopfsteinpflaster zu Füßen des Steinwegs. Berg bezwungen, jippie! Dieser Abschnitt muss ziemlich alt sein; dick wächst Moos auf den übereinander gestapelten Steinen, die das Pflaster auf der gegenüberliegenden Seiten einfassen. Dahinter geht es ein Stück bergab. Die Straße verläuft ziemlich gerade und eine Kurve kann ich auf keiner Seite erkennen. So ein Mist! Jetzt nach links oder nach rechts? Was soll‘s, ich kann hier ja kaum warten und einen Fuchs nach dem Weg fragen. Ich wackle kurz von einer Seite auf die andere und entscheide mich für links!
Hinter der nächsten Ecke geht es glücklicherweise sacht bergab und dann gemächlich auf ein Feld am Rand des Waldes zu. Als ich ins Freie trete, sehe ich die ersten Häuschen vor mir, in der Ferne tuckert irgendwo ein Traktor durch die Botanik und eine Kirchenglocke läutet. Super, geradezu herrlichst! Ich klopfe mir auf die Schulter und laufe entlang einiger Äcker auf die Stadt zu. Von der Schönheit dieses Fleckchens bin ich sehr angetan:
Ein Straßen- oder Ortseingangsschild ist nirgendwo zu sehen, aber es konnte eigentlich nur Rates sein. Der Schotterweg mündete auf ein Kopfsteinpflaster und nach einem Weilchen, direkt vor den ersten bewohnten Häusern, auf eine etwas breitere Teerstraße.
Schon fast da, nur ein bisschen noch! Ich war dankbar, wenigstens für ein paar Sekunden im Schatten einiger Mauern zur rechten Seite des Weges laufen zu können, da es immer noch wahnsinnig heiß und drückend schwül war. Mein Ziel für heute: Die öffentliche Pilgerherberge, die im Pilgerführer als sehr groß und gut ausgestattet beschrieben wurde. Vorerst wollte ich jedoch das erste Café oder Restaurant entern, auf das ich traf, denn langsam war ich ziemlich groggy. Meine Knie schmerzten, meine Schultern, die bei jeder schnellen Bewegung leise knackten, fühlten sich mittlerweile an wie zwei große Beulen, von meinen zermatschten Füßen ganz zu schweigen. Naja, der dämliche Rucksack verteilte das Gewicht eher ungünstig, da ich den Bauchgurt wie bereits erwähnt ja nicht wirklich nutzen kann. Ich muss irgendwas machen, dachte ich mir, so kann ich unmöglich bis nach Santiago laufen. Im Laufen betrachtete ich nachdenklich meinen linken Schultergurt, von dem sich langsam die ersten Fäden lösten. Verdammt! Hier mitten in der Pampa kann ich mir aber kaum einen neuen Rucksack kaufen und eine Schubkarre oder ein kleiner Trolley lagen auch nicht am Wegesrand. Und ganz ehrlich: Selbst wenn um die Ecke gleich der weltgrößte Rucksack-Shopping-Tempel auftaucht, bin ich dennoch zu stur, mir einen Neuen zu kaufen. Aber hey, warte mal… ein Trolley? Mooooment. Wieso eigentlich nicht? Alter, das ist genial! Vielleicht kann ich mir ja irgendwie ein kleines Schiebgedings oder Ziehgedöns basteln, oder noch besser, ein Rädchen an einen Ast binden, meinen Rucksack darauf stellen und das Teil hinter mir herziehen! Geradezu benommen und erschrocken ob meiner vermeintlichen Genialität wähnte ich mich schon fast vor den Toren Santiagos – meinen langsam zerplatzenden Rucksack easy neben mir rollend. Eine Sekunde überlegte ich kurz, dass das ja eigentlich ziemlich dämlich aussehen muss. Und ist das überhaupt „richtig“, hier, auf dem Jakobsweg? Aber halt, da fällt mir doch direkt das Bild ein, welches auf der ersten Seite meines Pilgerführers abgedruckt ist:
Ha! Also kein Grund für schlechtes Gewissen. Ich gehe ja trotzdem den gleichen Weg und bewege dieselbe Last, nur eben ohne meinen Rücken zu vernichten. Letzteres zumindest solange sich mein Rucksack noch nicht zerlegt, was eigentlich nur eine Frage von Tagen ist. Also, die Sache war klar: Es wird gebastelt, geschraubt, geknotet und geklebt! Da ich mich als recht kreative Type bezeichnen würde, war ich sofort Feuer und Flamme und ging im Kopf bereits mehrere gewagte Baupläne durch. Man müsste irgendwie an einem stabilen Ende eine Rolle befestigen, zwei Stöcke zu beiden Seiten anbringen und dazwischen mehrere kleinere Äste festknoten (ein paar Meter sehr dünnes Seil hatte ich ja bereits im Gepäck!). Die Möglichkeit, dass das Teil nicht nur erschütternd aussehen, sondern auch einfach unter der Last zerbrechen könnte, war natürlich in keinster Weise Bestandteil meine kühnen Gepäcktransportpläne! Die Stadt war zwar nicht sonderlich groß, aber wer weiß, vielleicht gibt es hier einen Handwerkerladen.
Die Straße machte einen leichten Knick und ich sah zum ersten Mal seit gefühlt mehreren Stunden wieder Menschen; ein junger Kerl schleppte mehrere prall gefüllte Einkaufstüten die Eingangstreppe hoch und beachtete mich gar nicht. Der Weg führte an ein paar wirklich schönen, alten Häusern vorbei, manche schon halb verfallen, aber im goldenen Licht der Nachmittagssonne sahen sie einfach zauberhaft aus.
Kurz darauf fand ich zum Glück einen Minimarkt mit angrenzendem Café, in dem drei Mädchen an kleinen Tischen ihre Hausaufgaben machten. Die Mutter eines der Kinder servierte mir den wahrscheinlich fünften Bleikuchen dieses Tages und verkaufte mir ein paar Flaschen Wasser. Im Schatten eines Torbogens neben dem Café gab ich der Schwerkraft nach und entschied mich zu einer längeren Pause; um den Zuckerschock nachhaltiger zu gestalten, genehmigte ich mir noch einen Schokoriegel.
Kurze Zeit später schlurfte ein sehr großer & sehr moppeliger junger Kerl die Straße herauf in meine Richtung, einen ganz zu ihm passenden, riesigen Rucksack auf den Schultern. Nicht weit von mir entfernt hielt er im Schatten eines Gartenhäuschens, stellte das Ungetüm von Rucksack krachend neben sich auf den Boden, schwer atmend und wie es schien überzogen von einer Schicht aus Sonnencreme, Schweiß und Dreck. Vielleicht war er gestürzt? Leise fluchte er auf deutsch vor sich hin und machte einen betretenen Eindruck. Also kurbelte ich mich wieder in die Höhe und ging zu ihm. Er stellte sich als ein sehr netter Rheinländer heraus, der auch zum ersten Mal den Jakobsweg ging. Sonst würde er nur im Büro sitzen und auf die Tastatur eindreschen, meinte er, und sei hier nun körperlich ziemlich an seinen Grenzen. Dabei tätschelte er seinen seinen Bauch und lachte: „Aber ein wenig abnehmen kann ja nicht schaden!“ Ein sympathischer Kerl. Nachdem er seine Wasserflasche mit ein paar mächtigen Zügen ausgetrunken hatte, setzte er sich auf ein niedriges Holzgeländer, welches ein Blumenbeet vor dem Gartenhaus vom Fussweg abgrenzte. Alarmiert sah ich das Holz sich tiefer und tiefer nach unten biegen. Aufgrund der Breitheit seines körpereigenen Sitzgerätes bog sich das Geländer bedrohlich immer weiter, knackte dann leicht und brach schließlich durch. Bevor er jedoch nach hinten in die Rosen kippen konnte sprang er, angesichts seine Leibesfülle erstaunlich schnell, nach oben und betrachtete nachdenklich das zersplitterte Brett. Stehend wechselten wir noch ein paar Worte, dann steckte er als Wiedergutmachung einen fünf Euro Schein zwischen die Holzsplitter und machte sich schnell wieder auf den Weg. Seltsamerweise habe ich ihn nie wieder gesehen. Schade eigentlich, ich mochte ihn und seinen trockenen Humor. Nachdem ich meinen Krams wieder in den Rucksack gestopft hatte, ging es aber auch für mich weiter. Schließlich hatte ich ja noch etwas vor: Auf die eine oder andere Art wollte ich heute meinen Trolley bauen. Ich tapste in Richtung Stadtzentrum…
… und ging im Kopf immer kühnere Modifikationen durch (vielleicht kann ich ja ein paar zusätzliche Wasserflaschen dran binden?). In Gedanken bin ich schon bei der Verzierung und Namensgebung meines fertigen Kunstwerks, als ich die Zugangsstraße zum Kirchhof erreiche und gegenüber einen Laden mit allerlei interessanten Auslagen erblicke. Was könnte ich hier wohl meinen? Nein, es war kein Blumenladen, Antiquar oder Waffenschmied. Ich gehe näher und stelle fest, dass es sich doch tatsächlich um einen kleinen Heimwerkertempel handelte – Wahnsinn! Überall Werkzeuge, Rohre, Malerbedarf und sonstiger Handwerkskram. Das nenne ich einen Wink des Schicksals! Einen besseren Zeitpunkt hätte es ja wohl kaum geben können.
Ich hatte ja schon hin und her überlegt und dachte, dass ich eigentlich nur ein Rad bräuchte. Den Rest würde ich mit etwas Phantasie und Schnupftabak schon hinbekommen. Mal im Ernst, was kann schon passieren?!
Kleinlaute Anmerkung des Autors: Dieser Satz ist auf der ganzen Welt stets die Vorstufe immenser Katastrophen.
Bei genauem Hinsehen musste ich jedoch feststellen, dass sich der Besitzer des Ladens, ein umgänglicher Mann so Ende 40, bei seiner Auswahl an Waren zum größten Teil auf den Gas-, Wasser- und Sanitärbereich konzentriert hatte. Es gab zwar auch eine anerkennenswerte Sammlung an großen und kleinen Pinseln, aber die halfen mir auch nicht weiter. Ich lief an jedem Regal mehrmals vorbei und sah mir alles an, aber ein schnödes, einfaches Rad, wie man es z.B. für eine Schubkarre braucht, gab es nirgends. Überhaupt war das einzige Ding mit Rädern, neben seinem roten Renault vor der Tür, eine kleine Karre zum Transportieren von Gasflaschen, die neben der Tür zum Lagerraum an der Wand lehnte und leider nicht zum Verkauf stand. Also musste ich meinen Plan ändern: Was hier drin konnte ich irgendwie zu einem Rad umfunktionieren? All die Messingröhrchen, Wasserhähne in allen möglichen Größen und Stöpsel brachten leider nichts. Aber dort, hehe, das Rohr da sieht ja aus wie ein… ach egal. Ich merke, wie meine Konzentration nachlässt. Schließlich entscheide ich mich für eine Muffe aus Plastik (jawohl, eine Muffe! Ein herrliches Wort) und so eine Art kleinen Handbesen mit langem blauen Stil, den ich am oberen Ende habe ansägen lassen. Aus diesen Utensilien wollte ich ein Rad basteln, die Holzkonstruktion für meinen Rucksack daran befestigen und das ganze lässig hinter mir herziehen. Die Muffe (haha, ne Muffe!) sollte dabei das sich drehende Teil sein, der blaue Stil das Verbindungsstück für zwei feste Stäbe an beiden Enden. Wie eine Schubkarre, nur andersherum sozusagen. Mein Vater, der alte Ingenieur, wäre bei diesem Bauplan sicher schreiend zusammen gebrochen, aber ich war dennoch überzeugt!
Ich setzte meinen Weg fort und erreichte das nur ein paar Minuten entfernt gelegene Gemeindezentrum von Rates, welches wirklich einen Blick wert ist.
Ich schlendere über den wunderschönen Vorplatz und betrete die Kirch:. Kein Mensch war zu sehen, es war angenehm kühl und bis auf das Zwitschern der Vögel kein Laut zu hören. Auf einer der hinteren Bänke setze ich mich hin, lege Rucksack, Strohhut & Stock neben mich und genieße die friedliche Atmosphäre.
Es fühlt sich tatsächlich etwas unwirklich an, denke ich mir. Ich bin ja erst seit ein paar Tagen hier und habe doch schon so viel erlebt und so tolle Menschen kennen gelernt. Auf der einen Seite bin ich natürlich sehr dankbar, frage mich aber dennoch, was wohl noch so starkes auf mich zukommt und ob ich dem gewachsen sein werde. Doch bei allen Sorgen, die ich haben mag: Ändert sich dadurch irgendetwas von dem, was passieren wird? Mein Weg ändert sich hier aber auch zu Hause ja nicht zwangsläufig dadurch, dass ich die ganze Zeit mit bangem Gefühl im Herzen rumlaufe. Höchstens negativ, soviel ist sicher. Warum also nicht mit einem Lächeln auf den Lippen den Pfeilen folgen? Das mag zwar etwas dümmlich aussehen, aber fühlt sich doch bestimmt besser an, als dauernd zu zaudern. Das und noch mehr waren so meine Pilgergedanken an diesem Spätnachmittag, in der kühlen, leeren und stillen Kirche von Rates. Ich kam leider nicht mehr dazu, wie in einem kitschigen Musical unvermittelt aufzustehen und ein herzzerreißendes Lied zu schmettern, da eine kleine Gruppe von Pilgern die Kirche betrat, sich ganz vorne auf eine der Bänke setzten und beteten. Also nahm ich leise meine Sachen, warf beim Herausgehen noch eine Münze in den Spendenkasten und ging auf die Straße.
Die Herberge müsste sich nun in Richtung Ortsausgang befinden. Also folgte ich wieder dem Lauf der Straße und sah schon bald einen gelben Pfeil. Weiter ging es durch ein paar kleine Gassen, auf denen sich nun außer mir so kurz vor dem Etappenziel auch mehr und mehr Pilger befanden. Schon bald lief ich mit einer Gruppe deutscher Pilger auf einem breiten Kopfsteinpflaster einen kleinen Hügel herauf, große und zum Teil verfallene Bauernhöfe zu beiden Seiten. Mittlerweile war es früher Abend. Ein sehr deutlicher gelber Pfeil vor uns zeigte nach links in eines der alten Gutshäuser, welches zudem unverkennbar als Pilgerherberge gekennzeichnet und offensichtlich bereits gut gefüllt war: Viele muntere Stimmen, das Klappern von Geschirr und der unverkennbare „Wäschewasch-Sound“ drangen nach draußen. Da ging uns das Herz auf! Wir waren alle mehr oder weniger platt und wollten uns waschen, etwas essen und die Beine lang legen. In den zwei Flügeln des Anwesens standen mehrere große (und zum Platzen gefüllte) Schlafsäle zur Verfügung, außerdem eine Küche, ein Waschraum, Duschsäle und ein gemütlicher Aufenthaltsraum. Im oberen Flur hinter einem kleinen Schreibtisch saß eine nette ältere Dame, bei der man sich anmelden musste und seinen Stempel bekam. Bei meinen verbrannten Schultern fragte sie mich gleich, ob ich auch an die Sonnencreme gedacht hatte („die portugiesische Sonne ist sehr intensiv, wissen Sie?“). Wo sie Recht hat…ja, ich hätte mich heute vielleicht doch etwas mehr eincremen sollen. Anschließend ging sie mir in den Schlafsaal am Ende des Ganges im Erdgeschoss und wies mir meinen Schlafplatz zu: Die untere Seite eines Doppelstockbettes in der Ecke des Raumes. Ich war verblüfft, wie viele niederschmetternde Gerüche meine Nase hier voneinander unterscheiden konnte. Verbunden mit der feucht-schwülen Luft bildete sich in diesem Saal das Aroma des Todes! Egal, ich bin müde und schlafe bestimmt ohnehin wie ein Stein. Müde bedanke mich und bereite mein Bett vor: Auf der Matratze breite ich meine dünne Reisedecke aus, lege anstelle des blauen PVC-Kopfkissens mein aufblasbares Kopfkissen mit der kuschligen Stoffseite nach oben ans Kopfende und breite zuletzt meinen Schlafsack aus. Falls es nachts doch etwas kalt werden sollte, kann ich mir ja immer noch meine kompakte Stoffdecke schnappen. Herrlich!
Auf dem Bett gegenüber war eine nette Frau gerade mit Erste-Hilfe-Fusspflege beschäftigt: Der rechte Fuss ihrer Freundin war quasi ein einziger großer & schmerzender Knubbel, an mehreren Stellen blau/rot getupft und sah nachhaltig lädiert aus. Mit allerlei Salben, Cremes und Pflastern wurde die arme Kralle gepflegt, bis alle Wunden gesäubert waren und zum Abschluss vorsichtig eine frische Socke darüber gestülpt wurde. Aus Heilungs- und Gemütlichkeitsgründen wurde der Fuss mit dem Rest des Körpers anschließend in die Senkrechte gebracht. Währenddessen wurden auch bei anderen Pilgern die Blasen verarztet, wovon ich aus mir unerklärlichen Gründen bisher verschont geblieben bin. Wenigstens bei der Auswahl meiner Schuhe & Wandersocken hatte ich nicht alles falsch gemacht. Hey, warte mal: Ich hatte doch zwei Socken zum Trocknen an meinen Rucksack gehangen! Also betrachtete ich noch einmal prüfend meinen Rucksack und stellte mit jäh einsetzender Panik fest, dass nur noch eine der Socken daran hing! Die Andere war mir, samt Wäscheklammer, wohl irgendwo während meiner Klettertour abgefallen. Welch schreckliches Unglück! Oder handelte es sich um die schändliche Tat eines Sockendiebes? Jawohl, der berüchtigte Sockendieb aus Povoa de Varzim, er hat wieder zugeschlagen! Na, wie auch immer: Nur mit drei Wander- und zwei Paar Baumwollsocken kann ich hier nicht durch die Gegend laufen, daher müsste ich morgen also noch in einen Sockenladen. Bis dahin kann ich mir ja auch noch überlegen, was ich mit der verbliebenen Socke mache. In diesem Absatz habe ich nun zig-Mal das Wort ‘Socke‘ verwendet, daher schlage ich einen radikalen Themenwechsel vor.
Denkwürdig war an diesem Abend noch der Ausflug unter die Dusche: Ich stand in einer kleinen Kabine ganz links leise summend unter dem warmen Wasser, als jemand am anderen Ende des Duschsaals volle Granate auch Warmwasser aufdrehte. Schlagartig wurde mein Wasser eiskalt und ich springe, jäh aufjaulend, zur Seite. Nun war ich wieder hellwach und mein Kreislauf bestens in Schwung!
Lachend und gut gelaunt gingen wir, fünf oder sechs Leutchen, anschließend in ein schnuckeliges Restaurant um die Ecke und suchten uns einen Tisch auf der Terrasse, da es im Schankraum war es unfassbar heiß und drückend war. Wir aßen leckerste Spaghetti, tranken fruchtigen Weißwein und plauderten ausgelassen. Im Rückblick ist dies auch einer jener in einer tollen Gemeinschaft verlebten Abende, für die ich sehr dankbar bin. Es ist schon verrückt: Auch wenn meine Reise nun schon etwas zurück liegt, waren diese Erlebnisse jedoch so intensiv und haben sich so stark eingeprägt, dass sie mir auch heute noch in manchen schwierigen Stunden ausgesprochen gegenwärtig sind und viel Kraft und Zuversicht geben. Schade nur, dass ich viele der Pilger nach diesem Abend nicht mehr wieder gesehen habe, da sie im Schnitt viel schneller gelaufen sind als ich und Santiago somit ein paar Tage vor mir erreicht haben. Nach unserem ausgiebigen Mahl ging es zurück in den Gemeinschaftsraum, wo ich mich gleich eifrig ans Werk machte! Neben einem kleinen Acker fand ich zuvor einige passende trockene Zweige, die ich mitnahm, um damit das Gestell zu basteln. Wir scherzen schon über DIE neue Geschäftsidee:
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Unter so manchen berechtigt skeptischen Blicken ging es ans Werk: Auf dem Boden hockend und überall Holzstückchen verteilend bastelte ich das Gestell zurecht, während wir uns weiter fröhlich unterhielten. Im Raum waren ungefähr zehn Leute, alle aus Deutschland, verteilt auf Sitzsäcken, Stühlen und einer etwas fleckigen, aber gemütlichen Couch. Es war schon recht spät, als ich den letzten Knoten festzog, das fertige Teil ein paar Mal über den Boden rollerte und mir innerlich schallenden Beifall spendete! Sieht zwar in der Tat etwas komisch aus und ist leider auch etwas zu klein geraten, wird aber bestimmt schon irgendwie funktionieren. Morgen, in aller Frische, binde ich meinen Rucksack daran fest und dann geht‘s los. Ein Foto davon werde ich auch erst morgen machen. Bis in die Nacht unterhielten wir uns, tauschten Geschichten und Erfahrungen aus und verkosteten einige Destillate. Insbesondere mit zwei jungen Experten aus dem Rheinland freundete ich mich an und traf sie fast an jedem Tag bis zum Ende der Reise wieder. Es waren zwei angehende Ingenieure, die wohl beim ersten Hinsehen feststellten, dass mein PEREGRINO 2000 beim ersten Windhauch zusammenbrechen würde und auf die Notwendigkeit eines zweiten Rads hinwiesen.
Leider zu spät. Aber vorerst genug davon, denn alle waren müde und machten sich auf den Weg ins Bett. Wir verabschiedeten uns also und schleppten uns müde in unsere Schlafsäle, vor denen nun so einige Wanderschuhe an den Wänden standen.
Von drinnen hörte man schon leises Schnarchen und jedes der 12 Doppelbetten war belegt. Ohne Licht war es denkbar schwierig, sich zu orientieren und ich stoß mir mächtig den großen Zeh an einem Bettgestell. Als ich nach diesem verrückten Tag im Bett lag und das Konzert aus Schnarchen, Husten und Rascheln verfolgte, war ich zwar nicht wirklich tiefenentspannt, aber dennoch geschlaucht genug, um nach kurzer Zeit schon wegzudämmern - außerdem sehr dankbar, dass (wieder einmal) alles soweit glatt gegangen ist. Kurz zuvor habe ich noch in meinen kleinen Pilgerblock geschrieben:
"Franta dankt für den schönen Tag!"